Buchtipp: "Die vierundfünfzigste Passagierin"

Lisa, die biedere Büroangestellte, fühlt sich ausgebeutet und unverstanden. Eine Dienstreise wird zum Sprungbrett für die vermeintliche Freiheit. Sie kehrt dem Arbeitsalltag den Rücken. Die Flucht aus dem öden Dasein birgt allerdings ungeahnte Gefahren. Und Mona, die Lisa für ihre Lebensretterin hält, ist der Aussteigerin auf der Spur.

"Die vierundfünfzigste Passagierin", der erste Roman von Franca Orsetti, erschienen im UHUDLA-Verlag.

480 Seiten, Farbeinband. Euro 17,80. Erhältlich im guten Fachhandel oder direkt beim UHUDLA (Bestellformular)

Mittwoch, 7. Januar 2009

Roman "Die vierundfünfzigste Passagierin" - Leseprobe / 4

Lisa lief. Sie lief davon. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. In ihren Ohren dröhnte es. Verzweifelt schnappte sie nach Luft. Sie keuchte.
Lisa rannte. Besser gesagt, sie stolperte die Straße entlang. Atemlos. Am liebsten hätte sie sich an eine Hausmauer gelehnt, sich fallengelassen, aber das wagte sie nicht. Nur weiter, fort von hier, befahl sie sich. Mit leidender Miene griff sie sich an die rechte Seite, wo ein stechender Schmerz sie zusammenzucken ließ.
Lisa floh. Wieder einmal hatte sie auf diesen, ihren üblichen Problemlösungsmechanismus zurückgegriffen. Weg, nur weg! Die Flucht schien ihr die einzige Option.
Hinter sich hörte sie die Straßenbahn. Die nächste Haltestelle lag etwa hundert Meter vor ihr. Lisa drehte sich um: Die Tram stand noch in der vorigen Station, jener der Volkshochschule am nächstgelegenen. Dort hatte Lisa nicht gewagt stehenzubleiben, zu warten. Sie war vorbeigelaufen.
Sie schätzte Weg und erforderliche Zeit der Straßenbahn bis zur nächsten Haltestelle. Es könnte sich ausgehen. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte das Tempo zu steigern. Beinahe hatte sie die Haltestelle erreicht, als die Tram sie überholte. Sie überquerte die Straße, ignorierte den zornigen Ruf eines Autofahrers, den sie zur Drosselung des Tempos gezwungen hatte, und trabte auf dem eigens für die Straßenbahn eingerichteten Gleiskörper weiter. Die Tram stand bereit, wartete auf die grüne Ampelphase. Lisa drückte erleichtert den mit Gummi bespannten Knopf neben der Tür, in der Erwartung, sich unverzüglich auf eine der harten Bänke plumpsen lassen zu können.
Aber nein! Die Tür ging nicht auf. Lisa probierte es mehrmals. Verzweifelt. Entgegen ihrer ruhigen Art klopfte sie an die Scheiben. Aufgebracht. Die Passagiere drinnen drehten sich zu ihr um. Einige blickten sie verständnislos an, andere grinsten. Eine Gruppe Jugendlicher machte sich über ihr Leid lustig.
Eine Frau deutete nach vorne. Zum Fahrer. Im ersten Wagen. Bei ihm konnte man im Allgemeinen noch einsteigen, auch wenn die übrigen Türen geschlossen waren. Lisa setzte sich wieder in Bewegung. Sie spürte die spöttischen Blicke der Jugendlichen, die sich ihr in den Rücken bohrten. Sie an ihre ungelenke Art erinnerten. Sie hatte nicht einmal die Höhe des ersten Wagens erreicht, als die Tram losfuhr. Verärgert ließ sie sich auf die Bank bei der Haltestelle fallen.
Dort verweilte sie jedoch nur kurz. Gerade, um ein wenig zu Atem zu kommen. Sie fühlte sich exponiert. Der Gefahr ausgesetzt, dass ihre Verfolgerin sie entdecken könnte. Sie musste weg von der Durchzugsstraße.
Schwerfällig stand Lisa auf und übersetzte, wieder bei Rot, die dicht befahrene Straße. Das wütende Hupen der Autofahrer registrierte sie kaum. Sie floh in eine ruhige Seitenstraße, marschierte diese mit flottem Schritt entlang, bog in eine noch schmälere Gasse. Vorläufig war sie in Sicherheit.
Was sollte sie tun?
Wer war die Frau? Eine Reporterin, hatte sie gesagt. Lisa glaubte ihr nicht. Journalistinnen sahen in ihrer Vorstellung anders aus.
Lisa wusste zwar nicht, wer ihre Peinigerin war, aber war überzeugt deren Ziel zu kennen: Erpressung! Sie hatte doch kein Geld!
Ein Auto fuhr langsam durch die Wohnstraße. Instinktiv presste sich Lisa an die Hausmauer. Vielleicht war es nicht so klug gewesen in diese einsame Gegend zu fliehen. Hier würde sie keiner schützen, wenn ihr die Frau auflauerte; keiner wäre Zeuge, wenn ihre Verfolgerin sie belästigte. Sollte sie zurück zur Durchzugsstraße?