Buchtipp: "Die vierundfünfzigste Passagierin"

Lisa, die biedere Büroangestellte, fühlt sich ausgebeutet und unverstanden. Eine Dienstreise wird zum Sprungbrett für die vermeintliche Freiheit. Sie kehrt dem Arbeitsalltag den Rücken. Die Flucht aus dem öden Dasein birgt allerdings ungeahnte Gefahren. Und Mona, die Lisa für ihre Lebensretterin hält, ist der Aussteigerin auf der Spur.

"Die vierundfünfzigste Passagierin", der erste Roman von Franca Orsetti, erschienen im UHUDLA-Verlag.

480 Seiten, Farbeinband. Euro 17,80. Erhältlich im guten Fachhandel oder direkt beim UHUDLA (Bestellformular)

Donnerstag, 26. Februar 2009

Kommissarin 20 - Zwischenkapitel

Liebe Sane!
Eigentlich ist das, was du abgeliefert hast, eine Themenverfehlung in Reinform. Du weißt, wie sich dies im klassischen Schulnotensystem, auf das ich bewusst verzichte, ausdrücken würde.
Die Aufgabe lautete: Ein modernes Märchen. Unter Beachtung folgender drei Zusatzpunkte: 1. Verwendung einer vorhandenen Märchenfigur bzw. eines Märchenmotivs 2. Die Moral aus der Gschicht’ zu ziehen. 3. Ein Happy-End.
Punkt eins: Du hast das bewährte Aschenputtel zur Protagonistin deiner Erzählung gemacht. Ein modernes Aschenputtel, Studentin der Betriebswirtschaftslehre, das sich des Nächtens durch die Clubbings von Wien tanzt, auf der Suche nach Liebe, Anerkennung und dem Sinn des Lebens. Es entspricht leider nur nicht der Vorlage, in der ein armes und diskriminiertes Mädchen skizziert wird, da deine Studentin durchaus sozial und ökonomisch abgesichert ist. Auch die Außenseiter-Rolle des ursprünglichen Aschenputtels ist in deiner Erzählung in keiner Weise berücksichtigt, da deine Protagonistin voll im Studentinnenleben integriert ist und sogar häufig den Mittelpunkt von Gesellschaften bildet. Welche Rolle sollte dem Prinzen, der im Original das Aschenputtel aus seiner benachteiligten Situation befreit, zukommen? Deine Neuinterpretation, in der das Aschenputtel unbedingt einen Typen haben will, dieser aber ihr Interesse nicht erwidert, hat mehr als mit der Bewältigung einer persönlichen Erfahrung oder einer Beobachtung im Freundeskreis zu tun, als mit einer stringenten Bearbeitung der Märchenvorlage.
Punkt zwei: Das gewählte Setting bedingt geradezu den weiteren Verlauf der Geschichte, die schließlich in der peinlichen Szene endet, in der dein Aschenputtel entdeckt, dass sich ihr Schwarm nicht für sie, sondern für eine andere Frau interessiert, die ihm Karrieremöglichkeiten eröffnet. In diesem Sinne hast du immerhin eine »Moral« niedergeschrieben, nämlich, dass sich Menschen mehr um sich und ihr eigenes Wohlergehen kümmern als um ihre Mitmenschen.
Punkt drei: Das größte Manko an deiner Geschichte ist das fehlende Happy-End, das ich explizit eingefordert habe. Als Schriftstellerin wirst du nicht herumkommen, Auftragsarbeiten annehmen zu müssen, und wenn eine Science Fiction-Story gefordert wird, kannst du keine romantische Liebesgeschichte an einem mittelalterlichen Hof einreichen.
Falls du die Geschichte neu, entsprechend meiner Anweisungen, schreiben willst und sie mir spätestens bis zur nächsten Kursstunde abgibst, bin ich bereit, die revidierte Arbeit nochmals durchzusehen und zu bewerten.
Ich bedauere zutiefst, dass dein ursprünglicher Eifer rapid nachgelassen hat, und hoffe, dass trotz deiner Entwicklung in letzter Zeit die missglückte Märchenbearbeitung nur ein Ausrutscher war.
Gruß, B. Keuler

Samstag, 21. Februar 2009

Kommissarin 19 - Kapitel 5

Ich ließ mich in den bequemen Lehnstuhl plumpsen. Da ließ es sich schon aushalten. Ich schaltete den Computer ein. Mal schauen, was das Internet bot. Vielleicht gab es Spiele am PC. Oder ich entdeckte Pornos auf dem Polizeidienstgerät?
Während der Computer hochfuhr, durchkramte ich die nicht-abgesperrten Laden des Schreibtisches. Sieh an, eine noch ungeöffnete Bonboniere. Ungeduldig riss ich das Zellophanpapier herunter. Der Abend schien doch noch gerettet.
Ich war in eine Patience vertieft, als ich Stimmen hörte. Mist! Im Vorzimmer ging das Licht an. Mir blieb keine Zeit, den Computer abzuschalten oder wenigstens in den Ruhezustand zu versetzen. Gerade noch rechtzeitig konnte ich die Schreibtischlampe abdrehen und unter den Tisch schlüpfen.
Eine kichernde Frauenstimme. Klang sehr jung. O je! Ich ahnte, wer die Besucher wären. Ein Paar, das einen einsamen Ort suchte. Ich befürchtete, Zeugin zu werden … Hoffentlich blieben sie im Vorzimmer.
Jetzt sprach der Mann. Er machte der Frau Komplimente. Ich konnte seine Stimme deutlich wahrnehmen. Mir blieb das Herz im Hals stecken. Das war doch René! Nein, das durfte nicht wahr sein. René und die Kommissarin!
Vorsichtig hob ich den Kopf und spähte über die Schreibtischkante ins Vorzimmer. Was ich da sah, gefiel mir überhaupt nicht: Es war der René. Er klebte an einer Frau, so eng wie sich der Badewaschel beim Tanzen an mich gepresst hatte. Aber seine Begleiterin war nicht die Kommissarin. Sondern ein junges Dirndl, höchstens halb so schwer wie die Breugel. Was trieb er nur mit ihr? Hatte ich den René so falsch eingeschätzt?
»Du hast wirklich Zugang?« Er gab sich beeindruckt. Wie plump!
Das Mädchen erklärte stolz, auf alle Personalakten zugreifen zu können.
»Echt? Zeigst du mir das?«
Er solle eine Person nennen, schlug das Mädchen vor.
Die Wahl, die René traf, überraschte mich nit. »Weißt du«, erklärte er dem Mädchen, »ich gebe die Fälle ein, welche die Kommissarin gelöst hat.«
»Dazu müssen wir in ein anderes Zimmer gehen. Durch das vom Chef durch.« Das Mädchen drehte bereits das Licht in »meinem« Raum auf. Ich machte mich unter dem Schreibtisch klein.
»Da war wer!« rief René überrascht aus. Richtig, der leuchtende Bildschirm und die geöffnete Bonboniere verrieten meine Präsenz.
Das Mädchen bekam es mit der Angst zu tun. »Nichts wie weg!« Ich erlebte in meinem Versteck richtiggehend mit, wie sie ihn aus dem Zimmer zerrte.
René weigerte sich. »Nein, nicht doch. Das waren nur zwei, die hatten sich gern. So wie wir.« Seine Stimme schmeichelte. So hatte er sich mir gegenüber nie verhalten. (Würde ich mir aber auch verbieten.) »Die sind längst weg. Haben sich wahrscheinlich verjagen lassen. Wir bleiben. Du zeigst mir das, und dann …« Er lockte. Vergeblich. Das Mädchen ließ sich nicht darauf ein: »Ich möchte keine Schwierigkeiten bekommen. Es war so schwer, die Lehrstelle zu erhaschen …«
René gab nach. Seufzend, wie ich mir einbildete. »Na, wenn du dich wohler fühlst. Wir finden sicher ein anderes Plätzchen, wo …« Die Schritte und Stimmen entfernten sich.
Wütend kroch ich hervor. Ich schaltete wieder die Schreibtischlampe an, öffnete das Word, tipppte »René war hier« und schmiss die halbleere Bonboniere in einen Mistkübel, der mit »Nur für Papier« beschriftet war. Ohne Computer oder Licht abzudrehen, verließ ich den Raum.
Dass sich das Gschnas dermaßen fatal entwickeln würde, hätte ich mir in meinen kühnsten Albträumen nicht ausgemalt. Beleidigt schlich ich die Stiegen hinunter und schaffte es (allerdings zu dem Preis, meine Jacke in der Garderobe hängen zu lassen), mich unbemerkt aus dem Gebäude zu stehlen.

Freitag, 20. Februar 2009

Komissarin 18 - Kapitel 5

Dennoch hatte ich, als mich René fragte, ob ich mit ihm zum Festl ginge (»Es ist auch ein Dienstag und kein Mittwoch!«, hatte er es nicht lassen können hinzuzufügen), nicht sofort abgelehnt: »Na, ich weiß nicht recht.« Als mir bewusst wurde, dass René auf jeden Fall auf dem Gschnas herumtanzen würde, sagte ich ihm zu, ihn zu begleiten. Begleiten: ha ha! Anfangs hockte er bei der Partie meiner Mutter und seiner Aufpasserin, der Steiner, und ich konnte ihn nur mit Tricks loseisen und auf die Tanzfläche zerren. Dort hielt es ihn jedoch nicht lange. Ich erfuhr schließlich den Grund für seine Ungeduld: Er erwartete die Kommissarin, die ihr Kommen angekündigt hatte. »Ich kenne sie noch nicht«, hatte er mir eifrig erklärt, »und Frau Steiner hat versprochen, sie mir vorzustellen.« War er nicht ganz dicht? Ich verstand beim besten Willen nicht, was so Besonderes an der Kommissarin wäre. Lapidar bekam ich zur Antwort, dass er die Frau, mit deren Akten er zu tun hatte, gerne persönlich kennenlernen wollte. Hatte er zuviel Polizeimief geschnüffelt, oder was? Irgendwas in meinem Inneren warnte mich allerdings, dass René nicht auf dem Weg zur völligen Vertrottelung war, sondern dass hinter dieser kommissärischen Geschichte was anderes steckte. Was er mir aber nicht verraten wollte.
Endlich war die von René sehnsüchtig Erwartete aufgetaucht. Über unseren Köpfen (wir saßen an dem Tisch der »Archivdamen«) erschallte plötzlich eine fröhliche Stimme: »Seid herzlich gegrüßt, meine lieben Kolleginnen!« Wie eine Diva lächelte sie huldvoll zu uns herab. Dabei hatte sie keinerlei Grund für ihr gönnerhaftes Gehabe: Im Vergleich zu ihr war mein Auftritt auf dem Gschnas vor neun Jahren harmlos ausgefallen: Sie war bemalt, als wäre sie in einen Farbtiegel gefallen, und an ihr baumelten und klimperten unzählige Klunker, die das Label »Modeschmuck« mehr als auffällig zur Schau stellten. Kommissarin Breugel war extrem ausgefressen (mit ihrem Leibesumfang brachte sie sicher an die hundert Kilo oder über auf die Waage), und steckte in altmodischen Klamotten (Verkleidung für das Gschnas, oder als gepflegtes Ausgehkleid?): ein schwarzes Kleid, mit lauter Spitzen, wie eine trauernde Mamma in einer italienischen Oper. Ein schwarzes Spitzenhäubchen hatte sie auf ihre mausbraunen Locken in unpassender Fünziger-Jahre-Frisur gedrückt.
Ich war fassungslos. Meine Mutter und ihre Damen, die diese verrückte Schachtel schon kannten, konnten nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken. Doch René starrte die Witzfigur fasziniert an. Nach dem Austausch einiger Banalitäten forderte er sie glatt zum Tanz auf!
Da reichte es mir, und ich ging meinen ersten Drink holen. Der Mann in der Badehose (sollte das sein Kostüm darstellen?), der fadisiert an der Bar hockte, sprach mich an. Einer dieser öden Typen, die glauben, attraktiv ist gleich blöd, und sich daher im Glauben sicher fühlen, dass sie nicht mit einem höheren Niveau als ihrem eigenen rechnen müssen. Normalerweise hätte ich einen solchen Trottel beinhart abgewiesen; da er jedoch an Aussehen ausglich, was ihm beim Hirn fehlte, ließ ich mich anmachen. Ich überredete ihn, in den Tanzsaal zurückzukehren. Er ging mir ziemlich am Wecker bei der Schunkelei, aber ich hoffte, René würde es bemerken und eifersüchtig reagieren. Aber nichts da! Er hatte nur Augen für die Kommissarin, redete ständig auf sie ein. Sollte ich allen Ernstes mit dieser Vogelscheuche in Konkurrenz treten?
Endlich hörten sie auf zu tanzen. Ich dachte, sie wünschte zum Tisch zurückzukehren, aber er schien sie überredet zu haben, die Halle zu verlassen. Wollte er »seine« Kommissarin nicht mit den Archivdamen teilen? Mich hatte René in keinster Weise beachtet.
Ich war sauer. Nachdem René verschwunden war, erledigte ich mich rasch meines stumpfsinnigen Beaus (nicht ohne einen verstohlenen Blick auf seine Badehose geworfen zu haben) und eilte von dannen. Zeit für den zweiten Margherita. Wer saß da an einem der runden Tischchen in der improvisierten Bar? Richtig. Erhobenen Hauptes, ohne René und seine Kommissarin eines Blickes zu würdigen, zischte ich an ihnen vorbei. Mit dem Drink verzog ich mich auf die Toilette und grübelte über mein Schicksal.
Als ich den nächsten Margherita orderte, hatte zwar das ungleiche Paar die Bar verlassen, dafür lief mir meine Mutter über den Weg. Zu meinem eigenen Ärger konnte ich es nicht lassen, nach René Ausschau zu halten. Im Tanzsaal war er auch nicht. Ich überwand mich und suchte den »Archivtisch« auf. Zum Glück war meine hochverehrte Mutter gerade nicht präsent.
»Wo ist denn der René?« erkundigte ich mich in möglichst harmlosem Ton.
Die Damen wussten Bescheid: Die Diva wollte das Fest verlassen, und René hatte sie hinaus begleitet, um ihr ein Taxi zu rufen.
»Ja, Sandra«, kicherte die Meier, eine besonders schwachsinnige Kollegin meiner Mutter, »der René kümmert sich angeregt um die Breugel. Da musst du aufpassen!« Und der Steiner fiel nichts Besseres ein, als stolz hinzuzufügen, dass dies ihr Verdienst wäre. Schließlich wäre es ihre Idee gewesen, dem René die KB-Akten zu überlassen. »Hätte mir nicht gedacht, dass unser Praktikant sich so sehr dafür interessieren würde.«
Ich auch nicht. »Ich geh’ mal wieder«, murmelte ich und entfernte mich rasch. Ich wollte mich unsichtbar machen und verkriechen. Die Toilette bildete leider keinen idealen Rückzugsort.
Langsam erklomm ich die Stiegen. Im ersten Stock schien alles ruhig. Der Gang düster, nur spärlich mit Niedrig-Volt-Lampen beleuchtet. Ich probierte die Türen aus. Alle verschlossen. Zur Not musste ich mich auf den Boden im Gang setzen.
Schließlich (ich hatte bereits die Hoffnung aufgegeben) ließ sich eine Tür öffnen. Ein kleines Vorzimmer, typischer Arbeitsplatz einer Sekretärin. In dem Raum befand sich eine weitere Tür. Richtig. Sie führte in das weitläufige Zimmer eines Chefs.

Mittwoch, 18. Februar 2009

Kommissarin 17 - Kapitel 5

SANDRAS GEHEIMNIS
Kapitel 5

»Noch einen Margherita, bitte!«
Ungeduldig wartete ich, während der Drink zubereitet wurde. Bei dieser Veranstaltung, die scheinbar unter dem Motto Nieten-hoch-zwei zu stehen schien, konnte frau sich nur besaufen.
»Sandra, hattest du nicht schon einige Tequilas?«
Vorwurfsvoller mütterlicher Ton. Und ich war so schlecht drauf, dass es mir nicht mehr gelang, ein »Rutsch mir den Buckel runter!« zu denken und sie mit charmantem Lächeln abzuservieren.
»Danke!« Erleichtert griff ich nach dem Drink, schob den Schein und die zwei Münzen hinüber und trat die Flucht an.
»Sandra, du sollst nicht…«
Ich spürte meine Häarchen auf der Haut sich regelrecht aufstellen, gleich den Stacheln eines Igels. In mir zog sich alles zusammen.
Das hatte ich notwendig, mit der eigenen Mutter ein Festl zu besuchen. Warum nur hatte ich mich darauf eingelassen?
Die Antwort kannte ich leider allzu gut. René. Dieser trottelige Student, der mir (zumindestens anfangs, als er mir nichts bedeutet hatte) wie ein Hündchen nachgelaufen war. Irgendwie taugte mir das. Es war richtiggehend spannend, auszugehen und nicht zu wissen, ob ich ihn in einem Lokal »zufällig« träfe. Weil er stundenlang auf mich gewartet hatte.
Natürlich hatte es mich geärgert, als mich Barbara und Cindy, meine Freundinnen, mit ihm aufzogen. Zunächst. Bis ich merkte, dass sie eigentlich nur neidisch waren.
Nein, der Kerl war gar nicht so übel. Er war auch keineswegs ein solcher Tölpel, wie ich im ersten Moment geglaubt hatte. Dass er bei der Polizei gelandet war, was ja alles andere als eine Auszeichnung bedeutete, konnte ich inzwischen verstehen. Weil ihn sein Dad unter Druck gesetzt hatte. Okay, da hätte ich mich auch auf den Deal eingelassen.
Nur seine Eifersucht ging mir auf den Keks. Nein, nicht wirklich. Im Grunde freute mich seine Aufmerksamkeit. Sie tat mir gut. Außer wenn er mir zusetzte. Meine Geschichtln nicht mehr schluckte. Er hatte entdeckt, dass ich am Mittwoch Abend nicht auf die Uni ging. Wenn er so weitermachte, fand er womöglich noch heraus, was ich in Wahrheit machte. Und das ging ihn absolut nichts an. Ich hatte niemandem davon erzählt. Nicht einmal Barbara oder Cindy. Das heißt, bei Barbara war ich schon nahe dran gewesen, aber dann hatte ich bemerkt, dass sie mit ihren Gedanken woanders war … Dazu ist mir die Sache viel zu ernst. Besser schweigen.
Ich gebe es zu: Ich bin gewohnt, meine Umwelt nach meiner Pfeife tanzen zu lassen. Angefangen von meiner Mutter über meine Freunde bis hin zu den Professoren. Mein Aussehen hilft mir dabei, zweifelsohne. Aber ohne Hirn und Psychologie läuft gar nichts. Ich habe den Umgang mit den Mitmenschen im Laufe der Jahre perfektioniert und hielt mich bereits für eine Meisterin.
Doch in letzter Zeit lief alles schief. Genau dort, wo mir etwas sehr am Herzen lag, versagte meine Wunderwaffe Manipulation. Nicht nur, dass ich die Keuler nicht um den Finger wickeln konnte, auch der René beschritt auf einmal eigene Wege.
Ich dumme Gans dachte, wegen mir wäre er zum Geriatriezentrum am Wienerberg gefahren! Um mich abzuholen. War mir zwar nicht recht, weil ich befürchtete, er könnte erfahren, was ich dort zu tun hatte. Die Geschichte mit dem Psychologie-Seminar (oder hatte ich Soziologie gesagt?) hatte er nicht geschluckt. Aber der Grund seines Besuchs bei den Oldies war – hatte ich inzwischen gecheckt – tatsächlich diese Schmalbaum (und nicht ich!). Vielleicht hatte er es zeitlich so gelegt, dass er mich träfe. Die Schmalbaum stellte jedoch sein primäres Ziel dar. Beziehungsweise sein mittelbares, denn in Wirklichkeit ging es um diese Kommissarin Breugel.
Je mehr sich René für die Kommissarin interessierte, umso bewusster wurde mir, wie sehr ich auf den Kerl stand. Hatte er sich womöglich schon mit der Kommissarin getroffen? Sie konnte doch gar nicht sein Typ sein, die war locker zehn Jahre älter als er, hatte ich in Erfahrung gebracht.
Die elendige Kommissarin ruinierte auch diesen Abend, ärgerte ich mich, während ich mit meinem Margherita etwas verloren bei der Tür stand und dem peinlichen Gehopse auf der improvisierten Tanzfläche zusah. Ich hatte völlig verdrängt, wie lächerlich diese Veranstaltung war. Jedes Jahr fand am elften November ein polizeiliches Gschnas statt, um den offiziellen Beginn des Faschings einzuläuten. Als Räumlichkeit wurde das Gebäude, in dem meine Mutter »arbeitete« (sagen wir: beschäftigt war), gewählt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tauchten in den unmöglichsten Kostümen auf: die Farbe Grün (bedingt durch die Amtszugehörigkeit zur Polizei?) war besonders beliebt, zahlreiche Männer waren als Jäger verkleidet und missbrauchten die Gelegenheit, um, in Knickerbocker, ohne Socken gekleidet, ihre weißen, dünnen Wadeln dem Publikum zu präsentieren. Andere wollten einmal von der Täterseite in die Rolle des Gejagten wechseln: ein Hirsch mit einem mächtigen Geweih, ein Hase und ein Bär waren diesmal vertreten. Ich war mir nicht sicher, ob nicht manche das Gschnas mit dem Jägerball verwechselt hatten.
Es war noch nicht einmal spät, aber die Gäste wirkten völlig überdreht. Kein Wunder angesichts dieses Alkoholkonsums! Bier war frei. In der Halle prunkte ein Riesenfass: Jeder konnte sich nach Belieben bedienen. Unter dem Zapfhahn hatte sich bereits eine widerliche Lacke gebildet. Der Alk wirkte: Die würdigen Polizeibeamten grölten und stampften auf der Tanzfläche herum, einige hatten sich in ein Eck zurückgezogen und ließen den Kopf hängen. Wer in knappem Abstand vorbeiging, bekam genüßliches Grunzen zu hören.
Eigentlich hätte ich wissen müssen, worauf ich mich einließ. Schließlich hatte ich vor vielen Jahren, als mein Vater noch lebte und meine Mutter als Abteilungsleiter-Gattin einen hohen Rang in der Polizeihierarchie einnahm, schon einmal dieses Fest der Lächerlichkeiten besucht. Es war nicht anders abgelaufen; den Hirschen mit dem Geweih-Hut hatte, meinte ich mich zu erinnern, ich schon damals gesehen. In dem Alter hatte mir das Gschnas ungeheuer viel bedeutet, und ich hatte enorm viel Zeit in die Vorbereitung gesteckt. Ich kam zwar nicht verkleidet, dafür geschminkt und herausgeputzt, dass ich (hatte ich mir eingebildet) glatt als Zwanzigjährige durchgehen würde. In der Realität war ich einfach eine naive, lächerlich bemalte Dreizehnjährige, um die sich ein paar junge Männer kümmerten, weil, wie ich später erfahren sollte, mein Vater, der mächtige Boss, vor dem sich alle fürchteten, sie damit beauftragt hatte.
Ein Grund mehr, diese Veranstaltung für immer und ewig zu meiden.

Montag, 16. Februar 2009

Kommissarin 16 - Zwischenkapitel

Akte II-1962.RBA 23.691-9435, Post Kirchberg a.d.Kr.
Bewertung
Nach eingehender Prüfung des Falles unterstütze ich die nicht weiter verfolgte Hypothese, dass Herr Karl (»Charly«) Wittinger den Raubüberfall auf die Post in Kirchberg a.d.Kr. begangen hat.
Am 1. Juni 1962 wurde die Post in Kirchberg a.d.Kr. von einem, wie es schien, bewaffneten Täter überfallen. Es wurden 320 Schilling erbeutet. Der Täter, der ein Zoro-Kostüm trug und dessen Gesicht hinter einer Maske versteckt war, konnte unbeschadet mit einem Motorrad fliehen. Bei dem Überfall selbst wurde niemand verletzt; bei der Flucht missachtete der Posträuber die Verkehrsvorschriften und raste bei Rot über sämtliche (in Summe drei) Kreuzungen von Kirchberg. Fräulein Maria Reiher, die gerade die Straße überqueren wollte, sprang zurück und verknöchelte sich. Sie musste eine Woche lang den Fuß hoch gelagert halten; sie war das einzige Opfer des Überfalls, das zu Schaden kam. Die Pistole wurde drei Straßen weiter gefunden; es handelte sich um eine Wasserspritzpistole für Kinder.
Bald manifestierte sich der Verdacht, dass Herr Karl Wittinger, »Charly« genannt, Jahrgang 1942, der gesuchte Posträuber sein könnte. Zum einen trug er im gleichen Jahr am Faschingsball in der Pfarre ein Zoro-Kostüm, zum anderen bemerkte Fräulein Reiher beim Fluchtfahrzeug die Ähnlichkeit mit dem Motorrad des Herrn Wittinger.
Herr Wittinger gab allerdings an, zur fraglichen Zeit (der Überfall fand um neun Uhr sieben statt) bei einem Kunden in dessen Haus (etwa 40 Kilometer von Kirchberg entfernt) gearbeitet zu haben (Herr Wittinger ist Installateur). Das Alibi wurde geprüft und bestätigt. Herr Wittinger war von acht Uhr dreißig bis zirka Mittag bei Herrn Doktor Ernst und Frau Erika Radebrecht; letztere bestätigte seine durchgängige Präsenz im Haus. An der Aussage der Gattin des Herrn Doktor Radebrecht, eines bekannten Tierarztes und Präsidenten der regionalen Tierärztekammer, wurde nicht gezweifelt, weil deren Ehrenhaftigkeit außer Frage steht. Allerdings wunderte sich Frau Radebrecht, warum der Installateur bereits um halb neun erschien, obwohl er für neun Uhr bestellt war. Außerdem legte er eine derart miserable Arbeit vor, dass er eine Woche später wiederkommen musste. Verdächtig weiters: Herr Wittinger weigerte sich, Herrn Doktor Radebrechts Ankunft zu Mittag abzuwarten, der auf Anraten der Tierarztgattin das riesige Muttermal auf seiner rechten Wange untersuchen sollte.
Auffällig war darüber hinaus, dass Herr Alfred Kohlbauer, als »bester Kumpel« vom Charly ortsbekannt, am Tag des Überfalls an seinem Arbeitsplatz in der Post fehlte. Es bestand die Überlegung, ob hier Komplizenschaft bestünde oder ob gar Herr Kohlbauer, im Kostüm seines Freundes und mit dessen Motorrad, den Überfall begangen hätte. Herr Kohlbauer wurde aber von der Liste der Verdächtigen gestrichen, weil der Posträuber laut und deutlich bei dem Überfall herum geschrien hatte – eine Leistung, die niemand in Kirchberg Herrn Kohlbauer, einem berüchtigten Stotterer, zugetraut hätte.
Die Untersuchungen konzentrierten sich auf den Verdächtigen Karl Wittinger. Da ihm aber nichts nachgewiesen werden konnte, wurden die Ermittlungen schließlich eingestellt. Karl Wittinger kam 1967 bei einem Motorradunfall ums Leben.
Als Kommissarin zur Aufklärung ungelöster Fälle erlaubte ich mir, meiner Verwunderung Ausdruck zu verleihen, dass die Akte II-1962.RBA 23.691-9435, Post Kirchberg a.d.Kr. meiner Abteilung zur Bearbeitung übermittelt wurde, obwohl dieser Fall als abgeschlossen gilt. Da meine diesbezüglichen Anfragen bei meinem Vorgesetzten, Herrn Oberstudienrat a. D. DDr. Schleicher (Schreiben vom 12. Dezember 1996; Zl. 3-1996/II-1962.RBA 23.691-943; Schreiben vom 4. Februar 1997, Zl. 4-1997/II-1962.RBA 23.691-943; Vorzl. 3-1996/II-1962.RBA 23.691-943; Schreiben vom 13. April 1997, 7-1997/II-1962.RBA 23.691-943; Schreiben vom 5. März 2000, 17-2000/II-1962.RBA 23.691-943) auch von Seiten seines Nachfolgers unbeantwortet blieben, habe ich die Zuweisung der Akte als Arbeitsauftrag verstanden, den Fall wieder aufzurollen.
Ich vertrete die Hypothese, dass Herr Karl Wittinger am 1. Juni 1964 den Überfall auf die Post in Kirchberg a.d.Kr. begangen hat. Sein Komplize Alfred Kohlbauer hat ihm inzwischen mit der (unprofessionell ausgeführten) Installateursarbeit bei der entfernt wohnenden Tierarztgattin ein Alibi verschafft. Er hatte sich ein großes Muttermal, das unverkennbare Merkmal seines Freundes, im Gesicht befestigt (es wäre zu klären, woher er das Utensil hatte). Eine Rückfrage bei der verwitweten Frau Erika Radebrecht am 15. September 2000 (siehe beiliegendes Protokoll, Anhang 5) ergab, dass es weder zu einer Gegenüberstellung mit dem »echten« Karl Wittinger gekommen war noch ihr ein Foto des Verdächtigen vorgelegt worden war. Weiters gab sie, als ich bezüglich etwaiger Besonderheiten hinsichtlich der Sprechweise des Installateurs nachfragte, mir gegenüber zu Protokoll, dass der angebliche Herr Wittinger kaum ein Wort von sich gegeben hätte. Ob er gestottert hätte, konnte sie sich nicht mehr erinnern.
Seitens der Abteilung für die Aufklärung ungelöster Fälle wurden entsprechende Vorarbeiten zur strafrechtlichen Verfolgung geleistet. Der Verdächtige Karl Wittinger kann nicht mehr gerichtlich belangt werden; eine etwaige Komplizenschaft von Alfred Kohlbauer wäre noch zu klären. Die aktuelle Adresse von Herrn Alfred Kohlbauer ist aktenkundig (siehe Anhang 9).
In meiner Funktion als Leiterin der Abteilung für die Aufklärung ungelöster Fälle ersuche ich für den Fall II-1962.RBA 23.691-9435, Post Kirchberg a.d.Kr. auf Grund der von mir hier vorgelegten Hypothese um Bewilligung der Fortsetzung der Ermittlungen (Verhör von Herrn Alfred Kohlbauer) unter der Voraussetzung der Bereitstellung entsprechender personeller Ressourcen.
Im Falle einer negativen Entscheidung beziehungsweise einer ausbleibenden Kundmachung derselben bis spätestens 5. Februar 2004 soll die Akte II-1962.RBA 23.691-9435, Post Kirchberg a.d.Kr. (endlich) geschlossen und aktenmäßig erfasst und archiviert werden.
Wien, am 5. November 2003 Kommissarin K. Breugel

Samstag, 7. Februar 2009

Kommissarin 15 - Kapitel 4

Es war schlimmer als vor einer Prüfung – ich meine, vor einer, die ich ernst nahm. Mit Entsetzen erinnerte ich mich, wie ich selbst gegenüber der sportlich ambitionierten Hausbewohnerin herum gestottert hatte. Die war mir übrigens nicht mehr über den Weg gelaufen: Hatte ich unten doch mehr Zeit vertrödelt, als ich gedacht hatte!
»Ich bin doch nicht hergekommen, um unverrichteter Dinge wieder zu gehen«, sprach ich mir selbst Mut zu, atmete tief durch und drückte auf die Klingel. »Was wollen Sie?« knarrte eine alt klingende, misstrauische Stimme aus einer Sprechanlage, die – versteckt positioniert – ich zuvor nicht bemerkt hatte.
Ich nannte meinen Namen, erklärte, dass ich von Frau Steiner käme. Die Tür wurde geöffnet.
Ich betrat einen lang gezogenen Vorraum, der in ein düsteres Zimmer führte. Klassisch eine Wohnung, die mehr schlecht als recht in ein Büro umgewandelt worden war.
In dem dunklen Kämmerchen hockte eine ältere Frau in einem furchtbar altmodischen Strickkostüm und mit einer noch schrecklicheren Frisur, bei der sie ihre grauen Strähnen zu einem Knödel hochgesteckt hatte. Auf der Nase drückte, wie konnte es anders sein, eine Brille in Krankenkassenfassung. Am liebsten hätte ich ein Staubtuch ergriffen und es an ihr (wahrscheinlich ohnehin erfolglos) angewandt.
So alt hatte ich mir die KB nicht vorgestellt. Wäre sie nicht so um die vierzig? Vielleicht war diese Frau auch gar nicht so alt, wie sie vorgab, schoss mir durch den Kopf, sie wirkte bloß so, weil sie dermaßen altfaderisch auftrat. Schade, dass das Licht in dem Raum miserabel war. Kein Wunder, dass sie eine Brille benötigte. Der Computer in der Ecke mit der grünen Schrift auf schwarzem Grund tat sein Übriges.
»Was wollen Sie?« Selbst ohne Verzerrung durch die Sprechanlage ratterte die Stimme wie ein absterbendes Motorrad.
Trotzdem: Irgendwie hatte ich den Eindruck, die Stimme schon gehört zu haben. Auch die Frau kam mir seltsam bekannt vor. Andererseits, wäre ich je auf so ein Original gestoßen, hätte ich das sicher nicht vergessen.
Verwirrt sagte ich nochmals mein Sprüchlein auf.
Die Alte unterbrach mich scharf: »Haben Sie einen Termin bei Frau Kommissar Breugel?« Witzig, die sprach von sich selbst in der dritten Person.
»Nein, ich dachte, ich könnte so …« Bei der werden sich ja nicht gerade die Leute anstellen, wozu also Terminvereinbarung?
»Das ist schade.« Die Hexe bemühte sich, Bedauern in die Antwort zu legen, was aber in keinster Weise glaubwürdig wirkte. »Frau Kommissar Breugel ist nicht da. Sie ist unterwegs, in ihren Ermittlungen.«
Ach so, das war gar nicht die KB. Erleichterung erfasste mich. Irgendwie hätte das auch nicht gepasst, diese alte Schachtel und die spitze Feder der Kommissarin.
»Kann ich auf sie warten?«
»Haben Sie Ihr Feldbett mit, junger Mann?« Sie lachte scheppernd. Wollte ihren Humor wohl unter Beweis stellen. Sie erklärte mir, dass »Frau Kommissar« tagelang unterwegs wäre, um vor Ort Erkundigungen einzuziehen. Sie selbst wüsste oft nicht, wann »Frau Kommissar« zurückkäme. Sie bot an, ihr auszurichten, dass ich sie besuchen wollte. »Sie sind bei Frau Steiner zu erreichen?« fragte sie nach.
Scheiße, das fehlte noch, dass die KB bei der Steiner anrief. Ja, bestätigte ich, aber es wäre wirklich nicht notwendig, dass …
Die Alte lächelte breit. Ich fühlte mich durchschaut. Ahnte sie, dass ich auf Eigeninitiative hergekommen war?
Besser rasch die Fliege machen. »Also gut, auf Wiedersehen.« Ich streckte der Sekretärin meine Hand zum Abschied entgegen, die sie widerwillig ergriff. Ihre Handfläche, stellte ich überrascht fest, war feucht.
Da hatte ich den genialen Geistesblitz, sie nach ihrem Namen zu fragen. Sie war, fiel mir auf, überrascht. Wahrscheinlich hatte sich in den langen Jahren, in denen sie in Amtsräumen verstaubte, niemand danach erkundigt. »Keuler, Birgit Keuler«, antwortete sie schließlich. Birgit, ein erstaunlich moderner Name für eine alte Schachtel, dachte ich noch, aber ich maß dieser Beobachtung keine Bedeutung bei.
»Na ja«, zog ich enttäuscht Resumée, als ich in dem gleichen Schneckentempo wie die Joggerin zuvor die Treppen hinabstieg, »das war nicht besonders erfolgreich.« Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ich an der Nase herumgeführt worden war.

Freitag, 6. Februar 2009

Kommissarin 14 - Kapitel 4

Überrascht über den Nachweis, dass körperliche Bewegung (und wären es nur zwei Stufen) die Tätigkeit des Gehirns anregt, blieb ich stehen und erfuhr, dass ich mich am falschen Weg befand. Die »Ka Punkt Breugel« wäre unten angesiedelt. Mir insgeheim gratulierend, dass ich mit meiner Theorie von polizeilichen Arbeitsstätten in niedrigen Etagen Recht hatte, wunderte ich mich laut, warum mir das nicht aufgefallen war.
»Haben Sie auch wirklich geschaut?« fragte sie zurück, »unten, im Erdgeschoss. Rechts hinter den Postkästen geht ein Gang rückwärts, da ist es.«
Okay, dort hatte ich keinen Blick hingeworfen. »Es ist nicht so einfach zu finden«, zeigte die Auskunftsperson Verständnis, »ich zeig’s Ihnen.«
Wir stiegen die Stufen hinab, die ich mühsam hinauf gestapft war. Für eine Sportlerin schlich sie, fand ich. Bein einigen Sportarten kam es Langsamkeit an, aber musste sie das neben mir praktizieren? Dafür unterhielt sie sich angeregt mit mir, wollte wissen, wer ich war und warum ich zur KB wollte. Ich ratterte mein Sprüchlein herunter, von wegen Praktikant und dass die »Ka Punkt Breugel« spezielle Akten bearbeite, die ich wiederum die Ehre hatte einzugeben (als ich das erzählte, wurde mir wieder einmal die Lächerlichkeit der Verwaltungsmaschinerie vor Augen geführt – ich war schon am besten Weg gewesen, die kritische Außensicht zu verlieren), und meine Chefin hätte nun einen Termin vereinbart, weil wir was abklären müssten. Dummerweise stotterte ich richtiggehend herum – wie peinlich! Bei der KB müsste ich überzeugender auftreten, nahm ich mir vor und beschloss, dies als Probegalopp aufzufassen: Je katastrophaler die Generalprobe, umso exzellenter bekanntlich die Premiere!
Wir hatten beinahe das Erdgeschoss erreicht: »Also, da vorne«, erklärte meine Begleiterin gerade, als ihr plötzlich was einfiel. »Mist, jetzt habe ich den Fahrausweis vergessen!«
Zum Laufen?
Sie würde, informierte sie mich, am Donaukanal entlang laufen und hinüber in den Prater. Zurück aber manchmal mit den Öffis. Dafür benötigte sie ihre Jahreskarte der Wiener Linien.
Ich versicherte ihr, ich würde schon das Büro finden, und bedankte mich. Sie sprintete die Stiegen hinauf. Sieh an, kam sie doch auf Tempo! Wahrscheinlich hatte sie mit mir plauschen wollen.
Rasch hatte ich den angegebenen Gang entdeckt. Ich marschierte, nicht gerade »rückwärts«, immerhin nach hinten. Leider fand sich am Ende kein Schild mit »K. Breugel«. Nur zwei Türen, ohne Angabe. Die eine machte ich kurz auf, nur einen Moment; der Gestank erklärte mich schneller die Umrisse der Müllcontainer, was der Zweck dieses Raums war. Die zweite Tür ließ sich nicht öffnen. Verschlossen. Ich klopfte, es tat sich nichts. Das kam mir nicht wie der Eingang zu einem Büro vor, sondern eher wie ein Durchgang, möglicherweise eine Verbindung zu einem anderen Haus.
»Die hat mich einfach gefoppt!« stellte ich erstaunt fest. Wollte sie nicht das Gesicht verlieren, weil sie es nicht wusste? Warum hatte sie sich jedoch später daran »erinnert«? Dafür gab es nur einen logischen Grund. Mit gestärktem Selbstbewusstsein, dass sogar ältere Frauen mit mir anbandeln wollten, rief ich den Aufzug (kein Fußmarsch diesmal, sondern systematisch von oben nach unten). Vielleicht lief sie mir nochmals über den Weg; ich würde sie wohl kaum in der kurzen Zeit verpasst haben.
Meine gute Laune schwand allerdings in den folgenden Minuten. Mir fiel ein Austro-Pop-Song über ein Taxi ein, der in meiner Kindheit in war. Während ich sehnsüchtig nach oben starrte, dass ich beinahe eine Nackenstarre bekam, ging mir der Refrain nicht aus dem Kopf: »Kummt net, kummt net.« Das galt übrigens nicht nur für den Lift, sondern auch für meine charmante Begleiterin, der ich verdankte, dass ich wieder unten, also von vorne beginnen musste. Besser für sie, sich nicht blicken zu lassen, inzwischen war ich nicht mehr sehr eingenommen von ihr.
Seufzend machte ich mich schließlich daran, das Haus Stubenring 24b nochmals zu bezwingen. Im dritten Stockwerk entdeckte ich zwar nicht das Büro der KB, aber eine offen stehende Aufzugtür. Kein Wunder, dass der Lift nicht funktionierte!
Ich wollte beinahe aufgeben, als ich im sechsten, Pardon, offiziell vierten Stock ein dezentes Türschild mit »Komm. Breugel. Abteilung für die Aufklärung ungelöster Fälle« entdeckte. Nichts von wegen »K Punkt Breugel«, wie diese Jogger-Tante behauptet hatte. Ich war am Ziel angelangt.
Plötzlich wurde ich wieder nervös. Unschlüssig blieb ich vor der Tür stehen, redete mir ein, ich müsse mal zu Atem kommen.

Donnerstag, 5. Februar 2009

Kommissarin 13 - Kapitel 4

Kapitel 4
Die Steiner ist wirklich ein Arbeitsvieh. Den letzten Zahnarzttermin, wo ihr ein Implantat eingesetzt wurde, hatte sie auf Freitag Nachmittag gelegt, damit sie nicht wieder Stunden von der Arbeit weg wäre. Mit dem Ergebnis: Ein versautes Wochenende, als die Backe beunruhigend anschwoll und sie ihren Zahnarzt am wochenendlichen Landsitz nicht erreichen konnte. Den Sonntagvormittag auf der Zahnambulanz. Schmerzen über Schmerzen.
Dennoch war sie am Montag pflichtschuldig in der Arbeit erschienen. Konnte kaum sprechen. Aber die Ablage, die durfte sie doch nicht liegen lassen. Bis sie um zwei Uhr nachmittags schlapp machte. Sich nicht mehr wehrte, als die Kolleginnen sie mit vereinten Kräften überzeugten, doch zu gehen: am besten zum Zahnarzt, jedenfalls aus dem Büro.
Es schien sie wirklich schlimm erwischt zu haben: Am Dienstag meldete sie sich krank. Freude bei dem Trio, das sein Kaffee-Stündchen gleich noch länger ausdehnte und unerträglich kindisch wurde. Zeit zum Fliehen. Adi und Otto hatte ich erst letzen Donnerstag besucht. Hmm! Ich könnte natürlich …
Eigentlich hatte ich es für Mittwoch geplant. An meinem freien Tag. Hätte damit einen guten Grund, die Vorlesungen nochmals zu schwänzen; im Übrigen war ich für das eine Seminar nicht vorbereitet, weil ich bereits in der Woche davor, wegen dieser Sandra, gefehlt hatte. Mein Interesse am Studium hatte mittlerweile wieder nachgelassen, daran waren die beiden Frauen Schuld, die mir aus unterschiedlichen Gründen zusetzten.
Nun aber … Da die Steiner verhindert war. Das Trio sich nicht einmal den Anschein zu arbeiten gab. Meine Anwesenheit (und mein Werken – sollte ich etwa in die Luft schauen?) sie im Grunde störte. Blöd nur, dass ich das Haus verlassen, durch den halben ersten Bezirk marschieren musste. Wenn mich da wer sah? Gegebenenfalls könnte ich immer noch auf naiv tun, von wegen Dienstgang und so. Was soll’s? Das Schlimmste wäre, sie würden mich kündigen. Na, und wenn schon! Dann würde ich das Geheimnis der KB niemals lüften, aber ich liefe wenigstens nicht Gefahr zwischen den Akten zu versauern. (Die Steiner ging allen Ernstes davon aus, dass ich während meiner »Praktikumszeit« alle KB-Akten aufarbeiten würde!) Im Falle meiner Entlassung würde halt mein Alter spinnen und drohen, mir den Geldhahn endgültig abzudrehen. Keine angenehme Perspektive …
Nach einigem Hin- und Her-Überlegen schnappte ich gegen halb zehn meine Tasche, in die ich schon am Vortag, als niemand hergeschaut hatte, einige KB-Akten gesteckt hatte, verabschiedete mich schnell mit einem »Ich muss in der Kopierstelle noch was klären!« (nicht rasch genug, um nicht die offensichtliche Erleichterung auf dem Gesicht der Kurz zu bemerken) und eilte von dannen. Tatsächlich machte ich einen Abstecher zur Kopierstraße, die allerdings nicht besetzt war. Ich legte meinen Freunden einen Zettel hin: »Muss außer Haus was erledigen. Wenn sich wer nach mir erkundigt, sagt, dass ich bei euch war!« Sie würden schon verstehen.
Unbemerkt verließ ich das Gebäude und trat in die frische Luft hinaus. Ein kalter Herbst. Zehn Tage zuvor hatte es sogar geschneit. Flotten Schrittes entfernte ich mich vom Einzugsbereich des Polizeigebäudes und eilte in Richtung Stubentor. In kürzerer Zeit, als mir lieb war, hatte ich mein Ziel erreicht. Meine Schritte verlangsamten sich. Eigentlich wusste ich nicht, wie ich der KB entgegentreten sollte. Natürlich hatte ich Strategien gewälzt: Als Botenjunge der Archivabteilung aufzutreten, Akten zücken, zum Beispiel die neueste, zum LKH Neunkirchen und im Namen der Obrigkeit ausrichten, dass der Fall in keinster Weise gelöst wäre. Ihr also den Akt zurückschmeißen. Irgendwie scheute ich jedoch davor zurück. Ich konnte nicht ausschließen, dass sie bei der Steiner nachfragte, und dann hatte ich den Scherben auf. Außerdem fand ich es unfair, denn sie hatte sich geschickt aus einer dämlichen Situation heraus gewurschtelt.
In dem Haus, wo die Kommissarin residierte, war auch ein Café untergebracht. Eines jener typischen Kaffeehäuser, deren Flair im Grunde in einer unbeschreiblichen Hässlichkeit und Kargheit der Einrichtung besteht. Ich beschloss, den Besuch bei der KB hinauszuzögern und bei einem großen Braunen meine Vorgangsweise auszutüfteln.
In dieser Vormittagsstunde bewirtete das Kaffeehaus mehrere Gäste, trotzdem wirkte es, wahrscheinlich wegen seiner Größe, eher leer. Ich wählte einen ruhigen Platz. Im Spiegel strahlte mir das Bild einer Frau entgegen, die in die Korrektur von Aufsätzen vertieft war. Eine Lehrerin, wunderte ich mich, am Vormittag?
Ich wandte mich vertrauensvoll an den hageren, Würde ausstrahlenden Ober, als er mir ein Kipferl zum Kaffee brachte, und erkundigte mich, ob er die Frau kenne. Er nickte verständnisvoll, das hätte ihn schon öfters wer gefragt. Die Dame, die regelmäßig ihr Frühstück im Kaffeehaus einnahm und dort oft den halben Vormittag verbrachte, wäre eine bekannte Schriftstellerin. Kiel oder so, hieß sie. Der Name sagte mir nichts. Aber er stank nach einem Pseudonym: Kiel, Federkiel, nicht sehr originell. Eine Krimi-Autorin. So sah sie auch aus, wie aus dem Gruselkabinett importiert. Tat auf intellektuell. Eine eher kleine Frau, schwarzes Kostüm, wasserstoffblonde (sicher gefärbte) Haare mit Pagenschnitt, knallroter Lippenstift und eine riesige schwarze Brille. Als wäre sie nie den sechziger Jahren entkommen.
Ich riss meinen Blick von der Rivival-of-the-Sixties-Tante los und konzentrierte mich, während ich in der fast leeren Tasse umrührte (das sollte meine Gehirnwindungen anturnen), auf meine Aufgabe. Sollte ich doch vorher anrufen? Was könnte ich sagen? Nein, ich entschied mich, bei dem Überraschungsbesuch zu bleiben. Dann könnte ich auch behaupten, ich hätte in der Gegend zu tun gehabt. Die Akten würde ich ihr jedenfalls nicht zurückschmeißen. Das passte nicht mit dem »Ich-bin-zufällig-hier«-Argument zusammen, und im Übrigen hatte ich die Akten, die ich bei mir trug, bereits eingegeben. Damit leistete ich mir selbst keinen Gefallen. Ich beschloss nach einigem Hin und Her, ich würde bei mir anläuten, mich als Bearbeiter ihrer Akten vorstellen und mich erkundigen, ob sie schon neuere Unterlagen hätte. Ich hätte eine Besorgung in der Nähe erledigt, und da hätte ich gedacht, dass es sinnvoll wäre, wenn diese mitzunehmen, anstatt die Post zu bemühen … Und so weiter.
Ich schaffte es, nach einer geschlagenen Viertelstunde endlich zahlen zu dürfen und brach auf. Die Madame-Tussaud-Figur im kleinen Schwarzen war auch schon gegangen. Gespannt und doch zögerlich betrat ich den nur mit Mühe zu entdeckenden Eingang mit der Hausnummer 24b und stand verwirrt im Gang herum. Welches Stockwerk? Eine Tafel ordnete Türnummern Parteien zu. Das half mir nicht weiter. Also alle Türen abklappern. Die Frage war nur: Wollte ich mit dem Lift in den letzten Stock fahren und danach gemütlich herunterspazieren oder zu Fuß die Höhen eines Wiener Altbaues erklimmen?
Ich entschied mich für die zweite Variante. Erstens bin ich sportlich, zweitens kam mir dieser gusseiserne Käfig, der sich Aufzug nannte, nicht übermäßig vertrauenserweckend vor (und in dem leeren Haus könnte ich womöglich lang auf Hilfe warten!), und drittens vermutete ich ein der polizeilichen Hoheitsgewalt unterstelltes Büro nicht gerade in schwindelnder Höhe.
Das Haus hatte es in sich: Mezzanin, Hochparterre, alles, was das Wiener Bauherz begehrt. Da hatte ich zweieinhalb Etagen erklommen – und befand mich noch gar im ersten Stock! Meine Theorie eines niedrig gelegenen Amtssitzes verlor mit jedem Stockwerk an Fundament.
Endlich, nach vier Etagen (das heißt, offiziell war ich erst im zweiten Stock) kam mir wer entgegen. Eine kleine Frau, ich wäre versucht zu sagen, mollig, aber sie war durchtrainiert (wahrscheinlich neigte sie zur Leibesfülle, die sie aber runtergehungert oder -gesportelt hatte), mit kurzem, stacheligem Haar (erinnerte mich an die Mickey-Figuren in der Betthupferl-Sendung in meiner Kindheit), im typischen Jogging-Gewand. Ein Detail irritierte mich jedoch: Sie war ungeschminkt, was ihr trotz ihres Alters (fünfunddreißig oder gar schon vierzig?) stand, auf ihren Lippen schimmerte allerdings ein Hauch knallig roter Glanz – als hätte sie einen Lippenstift aufgetragen und wieder abgewischt.
Ich sprach sie an. Sie wirkt überrascht, schien das Büro der KB nicht zu kennen. Sie gab mir den Rat, die Unterlagen bei den Briefkästen zu deponieren. Das würden viele so machen, es käme schon nichts weg. Nein, widersprach ich, abzugeben hätte ich nichts, ich müsste persönlich zur Frau Kommissarin, hätte – fügte ich hinzu, um glaubwürdiger zu wirken – einen Termin bei ihr. Damit schien ich sie (schloss ich damals aus ihrem Gesichtsausdruck) beeindruckt zu haben.
»Na ja, muss ich halt noch weiter schauen«, verabschiedete ich mich von der Sportlerin. Sie wünschte mir »Viel Glück« und bewegte sich in Richtung ebene Erde. Nach zwei, drei Stufen drehte sie sich plötzlich um und rief: »Meinen Sie etwa die Ka Punkt Breugel? So steht’s auf dem Türschild!«

Mittwoch, 4. Februar 2009

Kommissarin 12 - Zwischenkapitel

Akte III-1972.GHB 23.789-18621, Landeskrankenhaus Neunkirchen
Bewertung

Bereits nach oberflächlicher Prüfung der Akte kam ich zu dem Schluss, dass hier kein Verbrechen, sondern bestenfalls ein Versicherungsfall vorlag, der mittlerweile verjährt ist.
Am 13. Mai 1972 hatte eine Mitarbeiterin des Landeskrankenhauses Neunkirchen, Frau Silvia Berger, auf dem dortigen Parkplatz beim Ausparken ein Auto beschädigt. Außerdem soll die Frau beim Verlassen des Krankenhauses einen Pfleger überrannt und möglicherweise verletzt haben.
Ich nahm am 14. Juni 1999 mit meinem Vorgesetzten, Herrn Oberstudienrat DDr. Schleicher, Kontakt auf und teilte ihm meine Einschätzung mit, dass dieser Fall nicht in meine Kompetenz fiele und ich daher vorschlüge, die Akte an die zuständige Stelle zu retournieren. Herr Oberstudienrat DDr. Schleicher vertrat allerdings die Ansicht, dass der vorliegende Fall von mir zu bearbeiten wäre und eine abschließende Bewertung meinerseits benötige, bevor er einer aktenmäßigen Erfassung und Ablage zugeführt werden könne.
Daher nutzte ich die letzten Jahre, um tiefer gehende Recherchen zu dem Fall durchzuführen, die allerdings lange Zeit keine fruchtbringenden Ergebnisse zeigten. Schließlich gelang es mir, dank intensiver Gespräche im Landeskrankenhaus Neunkirchen den Sachverhalt aufzuklären:
Frau Silvia Berger war von 1969 bis 1976 als Krankenschwester im Landeskrankenhaus Neunkirchen angestellt. Am gegenständlichen Tag war sie auf Grund hoher Arbeitsbelastung stark nervlich angespannt. Beim Verlassen des Krankenhauses lief der Mitarbeiterin ihr damaliger Freund, dessen Name nicht mehr recherchiert werden konnte, über den Weg. Er wollte sie abholen. Angeblich lehnte dies aber Frau Berger ab; sie fühlte sich von dem Liebesdienst bevormundet. Daher war es dem jungen Mann auf einmal peinlich, Frau Berger gegenüber, die laut Augenzeugen gereizt reagierte, zuzugeben, dass sie der wahre Grund für sein Erscheinen im Krankenhaus war. Er gab vor, einen Arzt, der ihm einige Jahre zuvor den Blinddarm entfernt hatte, besuchen zu wollen. Da dessen Pensionierung einige Wochen zuvor prominent in der lokalen Zeitung angekündigt worden war (und es die halbe Stadt wusste), nahm die Krankenschwester die Ausrede als das, was sie war: durchsichtig. Wütend stürmte sie von dannen. Dass sie dabei einen Krankenpfleger oder sonst jemanden über den Haufen gerannt hätte, kann nicht bestätigt werden. Beim Wegfahren rammte sie, wie bekannt, ein Auto.
Fazit: In meiner Eigenschaft als Verantwortliche der »Abteilung für die Aufklärung ungelöster Fälle«, der mir laut meinem ehemaligen, mittlerweile pensionierten Vorgesetzten, Herrn Oberstudienrat a. D. DDr. Schleicher die Zuständigkeit für diesen Fall obliegt, sehe ich den Unfall, der in der Kategorie »harmloser Blechschaden« einzustufen ist, als Folge der vorangegangenen Aufregung. Ob der Seelenzustand von Frau Berger in Bezug auf den Versicherungsfall von Relevanz ist, liegt, ebenso wie das Wissen über dessen sachgemäße Abwicklung, außerhalb meiner Kompetenz.
Ich habe somit meinen Beitrag zur Aufklärung des Sachverhaltes geleistet und ersuche daher um Schließung der Akte III-1972.GHB 23.789-18621, Landeskrankenhaus Neunkirchen sowie um deren aktenmäßige Veranlassung.
Wien, 30. Oktober 2003 Kommissarin K. Breugel

Samstag, 31. Januar 2009

Kommissarin 12 - Kapitel 3

Wie peinlich? Was sollte ich sagen? Ich nickte und nannte den erstbesten Namen, der mir einfiel: »Ja, auf Frau Alexandra Schmeißer.«
»Alexandra Schmeißer?« Die Frau wiegte nachdenklich den Kopf. »Schmeißer, haben Sie gesagt? Nicht, Schießer? Alexandra Schmeißer, die kenne ich nicht. Aber wir sind ja auch so viele hier. Am besten, Sie fragen in der Verwaltung nach.« Ehe ich mich versah, begleitete sie mich zu einer Art Rezeption. »Ah, die Frau Walter beschwert sich wieder übers Essen«, kommentierte sie eine aufgeregte ältere Dame, die mit der einzig verfügbaren Mitarbeiterin heftig diskutierte. »Ich lass’ Sie jetzt alleine«, verabschiedete sich die selbst erkorene Begleiterin von mir, »bis die Walter fertig ist, das dauert.«
Zum Glück. Somit hatte ich Zeit, mir eine Strategie auszudenken. Sollte ich wirklich nachfragen, ob eine Frau Schmeißer im Haus war, zwecks Interviews mit Bewohnern? Das kam mir lächerlich vor, wie das Verhalten eines eifersüchtigen Gockels. Nein, das ging nicht. Ich wagte jedoch nicht, den Raum zu verlassen, womöglich lauerte die Dame, die mich in die Verwaltung geleitet hatte, draußen auf mich, um sich zu erkundigen, ob ich die gewünschte Auskunft erhalten hätte.
Die Zeit wurde knapp. Die Mitarbeiterin bemühte sich seit geraumer Zeit, Frau Walter zu verabschieden. Bald wäre ich an der Reihe. Da hatte ich einen Geistesblitz: Berta Schmalbaum. Die Alte aus der KB-Akte. Ja, ich würde nach Berta Schmalbaum fragen. Wenn sie mich zu ihr begleiten wollten? Warum nicht? Von einer Sekunde auf die nächste war ich von der Idee begeistert, Berta Schmalbaum persönlich kennen zu lernen. Vielleicht könnte sie mir von dem Besuch der Kommissarin berichten. Wie die KB so wäre. Wenn ich schon das eine Problem, Sandra, nicht meisterte, käme ich vielleicht bei dem zweiten Geheimnis, der KB, ein Stück voran.
Ich war so sehr von dieser Vorstellung berauscht und bemerkte daher gar nicht, dass Frau Walter endlich abgefertigt worden war. Erst als mich die Mitarbeiterin zum zweiten Mal ansprach, reagierte ich und nannte den Namen der gesuchten Bewohnerin. Ich sah das Gesicht der Angestellten sich verdüstern und hörte sie mit professionellem Mitleid murmeln: »Mein Beileid.«
Ich verstand nicht. Verwirrt fragte ich nach. Wohnte Frau Schmalbaum nicht hier?
Die Mitarbeiterin wich meinem Blick aus und begann in den Unterlagen zu kramen. Schließlich legte sie mir die Kopie einer Pate hin. »Es tut mir Leid, Frau Schmalbaum ist verstorben. Kürzlich. Ich dachte, Sie wussten das. Es wurde sogar im Bezirksblatt bekannt gegeben.«
Bedauernd schüttelte ich den Kopf. Ihr Ableben irritierte mich. Mittlerweile hatte ich mich in meine Idee verrannt, und ich hätte gerne die Alte, die witzig gewirkt hatte, kennengelernt.
»Sind Sie ein Verwandter?«
»Nein, es war…« Verzweifelt suchte ich nach einer glaubwürdigen Begründung. Ich hörte jemanden hinter mir die Tür öffnen. Die hereintretende Person enthob mich einer Erklärung und erlaubte der Mitarbeiterin, mich mit den Worten »Sie können das gerne mitnehmen« abzufertigen. Gedankenlos packte ich die Pate ein, als ich neben mir eine vertraute Stimme sagen hörte: »Ich würde mich noch gerne persönlich bei der Leiterin verabschieden, dass sie mir so kurzfristig ermöglicht…«
»Sandra!« entfuhr mir überrascht.
Der Blick, mit dem sie mich maß, hätte töten können. »Sieh an, was machst du denn da?« Natürlich hatte sie mich durchschaut.
»Sie kennen sich?« wunderte sich die Mitarbeiterin. »Der Herr wollte Frau Schmalbaum besuchen, aber leider« – ihre Stimme wurde leiser – »ist sie vor einiger Zeit von uns gegangen.«
»Was für ein bedauerlicher Zufall!« ätzte Sandra. Die Angestellte sah sie angesichts dieser Pietätlosigkeit pikiert an und fragte mich: »Wollen Sie auf die Dame warten?«
»Das will er sicher«, entgegnete Sandra an meiner Stelle.
Der Weg zur Straßenbahn war kein Honiglecken. Sandra war stinksauer auf mich. »Ich soll dir die Geschichte abnehmen, dass du diese Schmalbaum besuchen wolltest. Wahrscheinlich hast du ein Gespräch belauscht, dass diese Dame gerade gestorben ist.«
»Sandra, glaub mir…«
»Ha ha«.
Dummerweise erwähnte ich, dass Berta Schmalbaum im Zusammenhang mit den KB-Akten stand. Sandra drohte an, bei ihrer Mutter nachzufragen. Mist, das hätte mir gerade noch gefehlt! Daher entschied ich mich die Lüge, die ja nicht so fern von der Wahrheit lag: »Okay, Sandra, du hast Recht. Das mit der Berta Schmalbaum habe ich mir ausgedacht. Ich bin wegen dir hergekommen, ich wollte dich abholen, dachte, es ginge sich der Zoo noch aus.«
»Hast du nicht am Mittwoch Vorlesungen?« Was sie plötzlich alles wusste!
»Ich dachte, du freust dich, wenn ich dich abhole.«
»Freuen. Ha!« Die Straßenbahn war in die vor uns liegende Haltestelle eingefahren. Sandra fing an zu laufen und rief mir zu: »Ich finde allein nach Hause!« Zähneknirschend musste ich zuschauen, wie sie in die Niederflurstraßenbahn hüpfte.
»Hey, Kumpel« – der Rempler von Adi brachte mich wieder in die Realität zurück – »Liebeskummer oder diese Kommissarin?«
Ich riss mich von der Erinnerung los. »Beides«, murmelte ich.
»Kannst dich nicht für eine der beiden Weiber entscheiden?« spottete Otto.
»Blödsinn«, widersprach ich. »Die Kommissarin kenne ich doch gar nicht.«
»Dann schnapp’ dir mal ein paar Akten und marschier’ zu ihr rüber!«
Ich starrte Otto überrascht an. Der Vorschlag hatte was für sich.

Freitag, 30. Januar 2009

Kommissarin 11 - Kapitel 3

Wer die Schmalbaum war? Na, jene Altersheimbewohnerin, welche die KB noch vor kurzem befragt hatte. In dem Fünfziger-Jahre-Fall mit der Werkstätte, wo ein Wanderarbeiter (oder war es doch ein Student?) verschwunden war. Keine Leiche, nichts. Zuerst hatte er sich, obwohl ihm die Arbeit nicht lag, dort anstellen lassen, wegen eines Mädels (dumme Parallele zu mir!), danach war und blieb er verschollen.
Ich hatte nicht nachrecherchiert; das mit der Schmalbaum hatte ich rein zufällig rausgefunden. Eigentlich war die Sandra dran schuld. Mit ihrer Geheimniskrämerei. Und ihren Lügengeschichten. In ganz Wien hingen diese überdimensionalen Plakate von dem »ach so« herzigen Elefantenbaby herum, das es im Tierpark Schönbrunn zu bestaunen gab. Ich konnte mich wirklich nicht dafür begeistern, hielt dies für eine Werbemasche eines privatisierten Zoos, der sich mit Hilfe von allerlei Einfällen und überhöhten Eintrittsgeldern am Markt zu behaupten versuchte, aber Sandra wollte unbedingt den kleinen Jumbo sehen. All ihre Freundinnen hätten ihn schon bewundert, nur sie noch nicht … Also gut! Natürlich erklärte ich mich bereit, mit ihr zu dieser absoluten Besonderheit Wiens zu pilgern.
»Nächsten Mittwoch«, hatte sie vorgeschlagen.
Natürlich hatte ich an den Abend gedacht. Wir trafen uns immer abends. »Ich dachte, da hättest du keine Zeit«, hatte ich mich gewundert und es nicht lassen können, mit spöttischer Miene festzustellen: »Du hast doch dieses Proseminar, oder was auch immer das ist.«
Mir war es aufgefallen: Unter dem Make-Up war sie rot geworden. »Das ist auch am Abend. Wir gehen doch nicht zu später Stund’ nach Schönbrunn. Für die Nachtbesuche muss man sich monatelang vorher anmelden.« Was sie nicht alles wusste! »Ich dachte, zu Mittag, am frühen Nachmittag. Du hast doch am Mittwoch deinen freien Tag.«
Hatte sie sich das gemerkt! Es freute mich, dass sie mir mehr Interesse entgegenbrachte, als sie vorgab. Okay, dass ich eigentlich mehrere Vorlesungen an dem Tag belegt hatte, hatte sie verschwitzt, und ich wollte es auch nicht so eng sehen. Wir vereinbarten uns für den kommenden Mittwoch, ein Uhr, U-Bahnstation Hietzing.
Auf Frauen ist kein Verlass. Am Dienstag rief sie an und sagte ab. »Begründung«: Sie müsse für die Uni was fertigstellen. Ha ha. Das ausgerechnet in den zwei Stunden, in denen wir »das herzige Elefantenbaby« anschauen wollten.
Ich ließ sie spüren, dass ich ihr kein Wort abnahm. »Etwa für das Proseminar am Mittwoch Abend?« Wahrscheinlich hatte der Typ, mit dem sie sich am Abend traf, diesmal zu Mittag Zeit. Und der ging natürlich einem René vor, der sofort angelaufen kam, wenn sie nur einmal mit ihren grünen Augen funkelte.
Ich hatte sie mit meiner spitzen Art vor den Kopf gestoßen. Sie bemühte sich um eine Erklärung: »Wir sollen Interviews mit älteren Menschen machen, um Einblick über die Zeit der dreißiger, vierziger, auch fünfziger Jahre zu bekommen. Eigentlich hätte gestern eine entfernte Großtante zu meiner Mum auf Besuch kommen sollen, und ich dachte, ich verbinde das gleich. Dann hat sie kurzfristig abgesagt, weil es ihr nicht gut ging.« Hey, diese Geschichte stimmte sogar. Sandras Mutter hatte von dem geplatzten Besuch erzählt. Die Schmeißer hatte das ganze Wochenende gebacken. Umsonst. Die großtantlich missachteten Kuchenstücke hatte sie Dienstag früh der Kaffeerunde angeboten. »Daher habe ich rasch umdisponieren müssen. Ich habe in einem Altersheim gefragt, ob ich dort mit ein paar Leuten sprechen könnte. Es war schwierig genug, einen Termin zu bekommen. Weißt du, so kurzfristig.«
»Wieso kurzfristig?« hatte ich mich dumm gestellt.
»Na ja, ich brauch’s bis Mittwoch Abend.«
»Hast du da ein Geschichte-Seminar?« Wollte sie mir einreden, sie bräuchte das für ihr Betriebswirtschaftsstudium?
»Geschichten?« Sie schien unangenehm berührt. »Nein, ich benötige das für ein Soziologie-Proseminar.«
Hatte sie sich wieder fein herausgeredet. Aber besuchte sie nicht am Mittwoch Abend ein Proseminar in Kostenrechnung? Hatte sie jedenfalls auch mal behauptet.
»An welches Altersheim hast du dich gewandt? An das Geriatriezentrum am Wienerberg?« Es war das Einzige, das mir einfiel. Ach ja, in einer KB-Akte war es erwähnt worden.
Sie ergriff das Hölzerl, das ich ihr geworfen hatte. »Genau«, tat sie ein wenig auf überrascht, »dort habe ich einen Termin. Am Mittwoch um eins.« Quasi, als wollte sie mir vermitteln, dass sie noch weitere Altersheime kannte, fügte sie hinzu: »Weißt du, Lainz wollt’ ich nicht nehmen, nach dem, was dort immer wieder passiert.«
»Soll ich dich begleiten?«
Erwartungsgemäß lehnte sie ab.
Nicht, dass ich sie kontrollieren wolle, redete ich mir ein, als ich am Mittwoch, um etwa halb zwei am Reumannplatz in die Straßenbahn Nummer 67 in Richtung Otto-Probst-Platz einstieg. Ich wusste in meinem Inneren, dass sie mich mit ihren Geschichten an der Nase herumführte. Natürlich wäre sie nicht dort. Aber ich könnte so tun, als ob ich ihr glaubte und sie abholen, überlegte ich, als die Straßenbahn den Hügel entlang einer gelben Wohnhausanlage, von Favoritnern als »Senfburg« bezeichnet, hinab rollte.
Beinahe wäre ich zu spät ausgestiegen. Verwundert starrte ich den Gebäudekomplex an. Das sah mehr wie eine Wohnhausanlage denn wie ein Altersheim aus. Allerdings muss ich gestehen, weiß ich nicht, wie ein Altersheim aussehen sollte. Ich hatte als Kind meine Ur-Großmutter auf der Pflegestation eines Heims mehrmals besucht. Das hatte ich von einem Spital nicht unterscheiden können. Ich konnte mich nur an die bedrückende Atmosphäre, an verwirrte, alte Frauen, die mir über den Kopf strichen und Unverständliches murmelten, und an den entsetzlichen Krankenhausmief erinnern.
Aber das hier, das war ganz was anderes. Auch die Pensionistinnen und Pensionisten, die mir am Weg von der Straßenbahn zum Geriatriezentrum entgegenkamen, wirkten lebensfroh, gepflegt und gesund. Bestenfalls ein Stock oder leichtes Hinken. Von Demenz keine Spur. Die könnte sich dort auch niemand leisten, dachte ich spöttisch, als ich das Gebäude betreten hatte und mich verunsichert umsah. Würde ich hier wohnen, war ich überzeugt, würde ich mich tagtäglich verlaufen.
Mittlerweile war es knapp vor zwei Uhr. Was machte ich hier? fragte ich mich entsetzt, als ich mich unauffällig in einen Fauteuil im Eingangsbereich sinken ließ. Was für eine Schnapsidee, hergekommen zu sein! Sollte ich den ganzen Nachmittag da sitzen und auf Sandra warten, die sicher nicht vorbei kam. Wütend auf mich selbst, blätterte ich gleichgültig die herumliegenden Illustrierten durch. Sie interessierten mich nicht.
Nach und nach fiel meine Präsenz den Heimbewohnerinnen auf, die sich für ein Plauscherl in dem Raum niedergelassen hatten. Nach etwa zwanzig, dreißig Minuten sprach mich schließlich eine ältere Dame, die mich seit einiger Zeit ins Visier genommen hatte, an: »Warten Sie auf jemanden?«

Montag, 26. Januar 2009

Kommissarin 10 - Kapitel 3

Die neueren Werke trugen eine andere Handschrift als die früher abgegebenen Akten. Dennoch waren sie alle mit KB, also Kommissarin Breugel, unterzeichnet. Hatte sie eine Ghostwriterin? Wer würde sich denn bei Arbeiten, die ungelesen in einem Schrank landeten, dazu bereit erklären? Die einzige logische Erklärung schien, dass eine Mitarbeiterin, die im Gegensatz zur Kommissarin sprachlich begabt war, sie jetzt unterstützte. Oder hatte es früher eine Kollegin ausformuliert, und nun verfasste die Kommissarin die (besseren) Texte selbst? Das kam mir unglaubwürdig vor. Oder sie ließ die Texte extern erstellen, und dies leistete nun wer anderer?
Ich hatte nochmals nachgefragt. Was nicht gerade auf helle Begeisterung stieß. Alle, die Steiner, die Schmeißer, selbst das fröhliche Humpty-Dumpty-Frühstücksei hatten verhalten reagiert. KB war ein Thema, hatte ich gelernt (genauer gesagt, sollte ich endlich lernen), das besser nicht angeschnitten wurde. Ich hatte lediglich die Information bestätigt bekommen, dass die KB nur über eine einzige Mitarbeiterin verfügte, nämlich über eine Sekretärin. Ob diesen Posten im Laufe der sieben Jahre mehrere Personen besetzt hätten, konnten sie mir nicht beantworten. »Hat’s keine lang neben der Frau Tüchtig ausgehalten«, kuderte das Frühstücksei, wurde aber von der Schmeißer mit strengem Blick und einem verstohlenen Zeichen in Richtung der Steiner, die ein wenig abgewandt stand, gewarnt. Die Steiner hatte sich zu uns gedreht: Nein, entgegnete sie, denn die wenigen Male, in denen sie über die Jahre hinweg Kontakt mit dem Büro der KB gepflegt hatte, hatte sie (glaubte sie) am Telefon stets mit der gleichen Sekretärin gesprochen. Ich nahm mir vor, in der Personalabteilung nachzufragen, behielt aber diese Idee wohlweislich für mich.
Worin bestand das Geheimnis rund um die KB? Warum peinlich berührtes Schweigen, wenn man nur ihren Namen aussprach?
Vielleicht wussten meine beiden Freunde im Keller mehr? Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass sie gar nicht so abgeschnitten vom Tratsch lebten, wie ihre dezentrale Lage und ihre häufigen Abwesenheiten vermuten ließen. Sie hielten Kontakte zu ein paar treuen Gästen, die regelmäßig zu Besuch kamen und ihnen den erforderlichen Nachschub an Bier und Informationen lieferten.
»Sie haben mich eingeteilt, Akten von einer Kommissarin Breugel abzulegen. Berge sind das!« Adi und Otto nickten mitfühlend. »Oabeit is imma Oasch«, war zwar ihr Lebenscredo, aber mit einer solchen Hackn tat ich ihnen Leid. »Wisst ihr eigentlich, wer das ist, diese Kommissarin Breugel?«
Die beiden schüttelten bedauernd den Kopf. War ihr Informationsstand doch nicht so gut. »Is des ane von uns im Haus?« wollte Adi wissen.
Ich erzählte ihnen das wenige, was ich über die Breugel in Erfahrung gebracht hatte, und schloss: »Da scheint’s was gegeben zu haben. Alle, die ich frag’, drucksen herum.«
Nun waren meine Ex-Kollegen neugierig geworden. »Wir wer’n uns umhören«, versprach Adi, »und wenn ma was wissen, wer’n mas da sag’n, Burli.«
»Warum interessiert di de?« ging Otto der Sache nach.
Ich überlegte, ob ich mich auf den Kommentar beschränken sollte, dass mich die Geheimniskrämerei rund um die KB stutzig machte, oder ob ich mehr preisgeben sollte. »Na ja, die Akten von ihr, die alten sind ganz anders geschrieben als die neuen«, verriet ich schließlich.
Die Offenheit hätte ich mir sparen können, die beiden glotzten mich nur blöde wie zwei Kühe auf der Alm kurz vorm Wiederkäuen an. In diesen Sphären bewegten sie sich nun eben nicht. »Wie anders? Besser oder schlechter?« fragte Otto, der unter Beweis stellen wollte, dass ich durchaus solch abgehobenen Thesen mit ihm besprechen konnte. Adi rülpste und verdrehte die Augen; er hatte kein Interesse an solchen Kinkerlitzchen.
»Anders eben«, antwortete ich. »Eigentlich ist es jetzt interessanter zu lesen, aber ich glaube, sie hat sich früher mehr Mühe angetan.«
»Hot’s halt g’lernt, dass sich di Müh net auszoalt. Nun schreibt’s schene G’schichtn, des mocht ihr halt mehr Spaß«, mutmaßte Adi in einem Tonfall, der mehr als deutlich ausdrückte, dass er das Thema für beendet hielt.
Es brachte nichts, mit den Kumpeln die Schreibweise einer Kommissarin Breugel zu diskutieren. Dabei ging es nicht nur um den Stil, sondern auch um die Inhalte. Insbesonders bei den allerneuesten Texten. Seitdem die KB von ihrem Urlaub zurückgekommen war, zeichnete sie sich durch besonderen Fleiß aus. In manchen Wochen lieferte sie zwei, sogar drei fertig gestellte Akten ab. Manche schienen geradezu auf mich zugeschnitten. Ich musste aufpassen, keinen Verfolgungswahn zu entwickeln. Jedes Mal, wenn eine neue Akte der KB abgegeben wurde, wurde ich richtiggehend aufgeregt. Ich zwang mich nicht gleich hinzustürzen, sondern erst nach einiger Zeit, wenn die Kaffeetanten mit ihrer braunen Brühe, die immer langsamer und spärlicher durch den Filter floss, beschäftigt waren, hin zu schlendern und lässig von mir zu geben: »Dann werde ich die gleich mal bearbeiten.« Der Steiner fiel mein gesteigertes Interesse an den jüngsten KB-Akten zum Glück nicht auf; womöglich glaubte sie, auch meine Lebenserfüllung läge in einer korrekten Ablage.
Zu dumm, dass diese Berta Schmalbaum ausgerechnet jetzt verstorben war! Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ich, hätte ich mit ihr sprechen können, ein klareres Bild über die KB gewonnen. Vermutlich ein Irrglaube, die Alte wäre selbstbezogen und in der Vergangenheit verhaftet, dass nichts aus ihr raus zu holen gewesen wäre. Schade trotzdem!

Sonntag, 25. Januar 2009

Kommissarin 9 - Kapitel 3

Kapitel 3
»Geht’s da net guat, Burli«, meinte Adi direkt besorgt. »I hob’s ja glei gsogt, dass da di Gsö’schaft bei de Bürotussies net guat tuat.« Er hob sein Krügel, gefüllt mit Bier, das ich als Gastgeschenk mitgebracht hatte. »Prost, Burli! Loss di net untakrian.«
»Oba geh«, meinte der Otto, sein Kollege, und stieß mich mit dem Eckbogen freundlich-grob an. »Liebeskumma, hot er, da Klane. Woast nimma, dass er uns wegn an Madl verlossn hat?« Er tat, als würde er weinen, und lachte dabei über das ganze Gesicht. »Hat uns verloassn«, wiederholte er, »weg’an Weib!« Verständnislos schüttelte er den Kopf.
Ich hatte von den bedauerlichen Zahnbeschwerden meiner Kollegin, der Steiner, die deswegen erneut zum Arzt musste, profitiert. Wegen eines zu setzenden Implantats würde sie in nächster Zeit öfters Abwesenheiten verursachen, während derer ich mich auch verkrümmeln konnte. Ich hatte zwar Frau Schmeißer, die eigentlich für mich zuständig war, noch immer nicht davon überzeugen können, dass es wirklich keinen Sinn machte, wenn ich um acht Uhr (oder was es halt wurde) in der Früh antanzte, ich wäre zu der Zeit nicht einsatzbereit. (Was sie mit einer netten Einladung, eine Tasse Kaffee mit ihnen zu trinken, quittierte.) Dafür durfte ich mich, wenn die Steiner weg war, vertschüssen – vorausgesetzt, ich kam vor der Meisterin der Ablage zurück und lieferte Frau Schmeißer eine nicht allzu durchsichtige Erklärung für meinen (selbstverständlich dienstlichen) Weg.
Diesmal hatte ich sogar das Ziel meines »Dienstganges« wahrheitsgemäß genannt: Die Kopierstraße. Bei einigen alten KB-Akten wäre einiges schwer lesbar, hatte ich behauptet, da könnte mir eine hochauflösende Kopie weiterhelfen. Dass das »Papier« in dem überdimensionalen Sack so verdächtig klirrte, wurde zum Glück nicht kommentiert. Ich hoffte nur, das Frühstücksei, die Einzige des Kaffee-Trios, welche meiner Geschichte tatsächlich Glauben zu schenken schien, würde nicht irgendwann gegenüber der Steiner in aller Naivität ausplaudern, dass ich, in meinem Bemühen, die Akten entziffern zu können, die Kopierstraße aufgesucht hätte.
Nun saß ich also bei meinen Ex-Kollegen und ließ mich – mehr oder weniger ernst gemeint – von ihnen bedauern. Sie hatten mit ihrer Einschätzung durchaus Recht. Mir ging’s nicht so gut: die schwachsinnige Hackn und Sandra. Wegen ihr hatte ich mich in diese öde Archivabteilung versetzen lassen, und was hatte ich nun davon? Mit uns ging es nicht so wirklich voran. Na ja, ein paar Mal waren wir schon fort, und sie hatte mir auch immer wieder schöne Augen gemacht. Wahrscheinlich, wenn ich ordentlich ranging, könnte ich sie bekommen. Aber …
Ich hatte mich, fürchtete ich, in diese freche Gör mit ihren grünen Augen verschaut. Mich hatte es diesmal richtig erwischt. Ich wollte mehr, was Ernstes, was Tiefergehendes. Das würde sie nicht zulassen, fühlte ich, denn Sandra verhielt sich mir gegenüber nicht aufrichtig. Nicht nur, dass sie in Wahrheit zweiundzwanzig Jahre alt war (und nicht neunzehn, wie sie anfangs behauptet hatte) und dass sie gerne Geschichtln druckte und sich (gemeinsam mit ihren Freundinnen, die sie leider immer wieder mitzerrte) fürchterlich abhaute, wenn ich darauf reinfiel; nein, da war mehr. Es existierte ein versteckter Teil ihrer Persönlichkeit: irgendwas (oder vermutlich irgendwen) nahm sie sehr ernst, aber darüber sprach sie nicht. Mir verriet sie nichts, denn ich war nur ein Spielzeug für sie; ihrer Mutter sowieso nichts, doch vielleicht schwieg sie auch gegenüber ihren Freundinnen.
Dazu gehörte, dass sie an Mittwoch Abenden nie Zeit hatte. Zuerst hatte sie behauptet, sie hätte eine Vorlesung, aber als ich ahnungslos vorschlug sie doch abzuholen, hatte sie nervös reagiert. Schließlich hatte sie eingestanden, die Unwahrheit gesagt zu haben, und war mir patzig über den Mund gefahren, als ich es wagte nachzufragen. Eigen war auch, dass sie oft an Dienstagen und manchmal auch Montagen die Ausrede benutzte, sie hätte keine Zeit, weil sie eine Seminararbeit für die Uni fertigtstellen oder für eine Prüfung lernen müsste. Aber jene Prüfung, die sie einmal vorgab, hatte sie in Wirklichkeit drei Tage zuvor erfolgreich abgelegt. Hatte doch ihre Mutter stolz verkündet! Sandra selbst hatte dies auch mir bestätigt, als sie darauf ansprach. Nachdem ich sie der Lüge überführt hatte, weigerte sie sich eine Woche lang mich zu sehen.
Ja, Sandra bereitete mir Kopfzerbrechen, da hatte Otto schon Recht. Darüber hinaus setzten mir die KB-Akten zu. Da war was faul, spürte ich. Vor allem bei den neueren Schriftstücken ab dem Jahr 2001: Die wirkten, als wären sie von einer anderen Person verfasst. Ein völlig unterschiedlicher Stil, gut geschrieben und durchaus interessant (da musste ich der Steiner direkt Recht geben), manchmal sogar mit spitzfindigen Bemerkungen und tiefsinnigen Analysen, die eigentlich in einer Akte nichts zu suchen hatten. Was wiederum bewies, dass die Damen des Kaffee-Trios nie einen Blick auf die KB-Akten geworfen hatte. Schade um die Liebesmühe der Autorin. Obwohl … Vielleicht machte es ihr mehr Spaß, die mühsam aufgetriebenen Ergebnisse der Recherche stilvoll aufzubereiten, als brav und hölzern, wie sie es Ende der neunziger Jahre exerziert hatte.
Falls es überhaupt die gleiche Person war …

Kommissarin 8 - Zwischenkapitel

Akte II-1963.SOS 67-98752, Café Tatjana, 1220 Wien
Bewertung

Nach Prüfung der Akte komme ich zu dem Schluss, dass angesichts des geringen Sachwerts der – zeitweilig – entwendeten Ware der Vorfall nicht weiter verfolgt werden soll.
Am 4. April 1966 meldete Frau Ines Prospischill, Inhaberin des Cafés Tatjana in der Sand???gasse 3, 1220 Wien (Anmerkung von Kommissarin Breugel: Straßenbezeichnung in der Akte nicht identifizierbar, möglicherweise Sanddorngasse oder Sandefjordgasse) ihre Kaffeemaschine als gestohlen. Bei der Sachverhaltsaufnahme vor Ort entdeckten die Beamten die Kaffeemaschine an ihrer gewohnten Stelle. Frau Prospischill zeigte sich überrascht, bestand aber darauf, dass die Kaffeemaschine über Nacht entwendet worden wäre. Ein testweiser Einsatz des Geräts ergab dessen eingeschränkte Funktionalität: Die Brühe verließ nur tropfenweise den Filter; die Qualität der von ihr angebotenen Kaffeespezialität war laut Frau Prospischill nicht mehr gewährleistet.
Frau Ines Prospischill, Inhaberin des Cafés Tatjana, bestand auf einer Aufzeige: Ihre gut funktionierende Kaffeemaschine wäre von unbekannten Banditen über Nacht ausgetauscht worden.
Die Anzeige wurde am 5. April 1966 aufgenommen; der Sachverhalt nie weiter verfolgt. Die Akte wurde nie offiziell geschlossen.
Angesichts der vernachlässigbaren Sachsumme ersuche ich um Schließung der Akte II-1963.SOS 67-98752, Café Tatjana, 1220 Wien und um deren aktenmäßige Veranlassung. Dem Akt lag neben der Anzeige mit Sachverhaltsdarstellung auch ein Manuskript einer Erzählung des unbekannten Schriftstellers A.M. Mühlwasser bei, welche den Vorfall zum Inhalt hat. Es konnte nicht geklärt werden, ob einer der ermittelnden Beamten mit schriftstellerischen Ambitionen dieses Ereignis, in einem (Anmerkung von Kommissarin Breugel: stümperhaften) Versuch, sich literarisch zu betätigen, verarbeitet hatte oder ob die Kollegen im Rahmen der Untersuchung auf diese Erzählung gestoßen waren und sie als möglichen Erklärungsansatz berücksichtigt hatten.
Wien, 22. Oktober 2003 Kommissarin K. Breugel
Bei uns in der Au: Der Streit der Kaffeetanten (Erzählung)
Bei uns in der Au spielen sich immer wieder Streidarein und Scharmützl ab. I mein, wir verstehn uns alle sehr gut, so im Allgemeinen, aber ab und zu, da kracht’s halt. Manchmal laut, wie beim Feiawerk, und dann spielt’s Granada, und es blitzt und donnert, als hätt’s den letzten Tog gschlogn.
Besonders org ist des mit den Geschäftsleut, die hängn halt immer wieder mitanda.
Ich denk da an eine Episode, die sich grod erst bei uns in der Au abgespielt hat.
Wir hom ein paar Wirtsheisa, aber auch zwei Kaffeeheisa. Eigentlich hat es immer nur ans gebn. Solange ma zruck denken ka. Des von der Innerl Pschemysl, wie der glücklose Ottakar von Böhmen, nur daß ma den aber mit an Haschek gschriebm ham. Aber heute sind ma alle Österreicha, also ka Hasckek wie in da Monarchie, wo die Behm a alle Österreicha woan. Des Kaffeehaus von da Pschemysl, an die ihr eich vielleicht noch von der anderen Geschicht’ erinnern könnt. Die Innerl, die uns alle zu ihrem vierzigsten Geburtstag einglodn hat (wer woas, ob des net schoa der funfzigste war) und der des mit der Tortn passiert is. Ihr erinnert’s euch, sie hat, wie a Hochzeittortn, ihre Geburtstagstortn gehabt, mit vier Etagen. Sie wollt’s net anschneiden, ums Verrecken net, sie hot uns mit Brathendl gefuttert und mit an Eis aus ana neumodischen Eismaschin, aber nix mit da Tortn. Wir ham gedacht, sie wü se die Tortn aufbeholtn, als Erinnerung, wei heiraten wü di eh kaner mehr, aber des woars net. Es wor haas, und die Wespen san um die Tortn geschwirrt, und plötzlich is a Teil von da Tortn einfach runtagrutscht. Des warn nämli kane vier Tortn, die Pschemysl hat nur a Tortn gmocht, die klane für obn, und für die drei anderen hat’s vier runde Karton gnumma und die mit einer Creme bestrichen. Als die Innerl das Malheur mit den Tortn gsehen hat, hat’s zuerst noch versucht, die Tortn und ihre Reputation zu retten und wollt’ des Stück wieder am Karton festpicken, aber des hat holt net gholtn, und da is sie hysterisch gwordn. Hot geheult und gschrien, und wir alle hom sie beruhigt, und gesagt, des ist ja net schlimm, denn im Grunde hom ja alle de Innerl Pschemysl gern gehabt.
Aber des mit der Tortn wollt ich eigentli’ net erzähln, weil die Gschicht kennt’s eh alle in da Au. Sondern wi a zweits Kaffeehaus bei uns aufg’mocht hat. Des hot die Innerl ziemli’ unter Druck gbrocht. Weil natürli hom wir uns des neue Kaffeehaus angeschaut, des von der Edda Meier. Und des wor wirklich a schens Kaffeehaus. So richtig mit runde Tisch und große Fauteuils, und sogar Zeitungen sind rumg’legn. Bei der Innerl hat ma si nur die Zeitung von ihr ausborgn kenna. Und Mö’speisn hot’s bei der Edda gegeben. Da hot die Innerl mit ihrem Kiosk mit die poar Sesseln draußn net mitholdn kenna. Trotzdem, wir san a weiter ab und zu zur Innerl gangen, denn wir hom se gern ghobt, und sie hat auch an Spaß verstanden. Die Edda hat imma so komisch g’schaut bei unsere Witze.
Wir san amol zur Edda und amol zur Innerl gegangen, um zu hören, wie sie übereinander geschimpft hom. Des wor ja lustig. Die zwei hom sie net ausstehn kenna. Für uns wor des a Gaudi.
Einmal hot’s kan Kaffee gebn bei der Edda. Ihr Maschin war kaputt. Verstopft. Da hat sie doch glatt behauptet, die Innerl hätte wen geschickt, der ihr die Kaffeemaschine ruiniert hätte. Die Innerl hat getobt, als sie des g’hert hat. Sie wollt schon zur Edda gehn und a Theata machn, was normalerweise imma sehr lustig für uns woar, aber da war sie so wütend und is die ganze Zeit nur mehr mit an Messa in da Hand rumg’laufn, also ham ma gesagt: Innerl, beruhig di, reg’ di net auf, bleib da! Na ja, sie is net mit dem Messa in da Hand zur Edda rüberg’laufn. Aber gschimpft hat sie die nächsten Tag, daß des a Freud woar. Die Edda hat dann a neiche Maschine gekauft, diesmal das gleiche Fabrikat wie bei der Innerl. Trotzdem hat sie behauptet, ihr Kaffee wär viel besser als der von der Innerl, die in ana Bruchbuden a Café betreibt. Nur dummaweise woar die neiche Maschin’ nach einiger Zeit kaputt. Da Kaffee ist net g’scheit durchg’runna, es woar oals verstopft.
Die Innerl hat si’ g’freit. Aber net loang. Da war plötzli’ ihre Kaffeemaschine weg. Über Nacht. A Einbruch? Net wirklich. Es hat ja jeda gewusst, daß sie den Schlüssel unterm Blumentopf versteckt hot. Sie hot behauptet, sie hätt’ abg’sperrt, aber in der Früh woar offen, der Schlüssel is gesteckt – und die Kaffeemaschine war weg. Natürlich hat sie der Edda vorgeworfn, daß die dahinter steckt. Den Kieberer hat’s gsagt, die sollen bei der Edda suchen. Aber des wollten di net. Wie schaut denn das aus?
Am nächsten Tag is die Innerl ganz aufg’löst gewesen. Die Kaffeemaschine woar wieder da, an ihrem alten Platz. Wahrscheinlich hat sie die bei sich selbst versteckt und hat das vom Diebstahl nur behauptet, um der Edda eins auszuwischen. An dem Tag warn ja wirklich alle von der Au bei ihr, selbst die, welche sich sonst net blicken hom lassen. Na, haben wir uns g’dacht, ist ja wurscht, wird wieda so a Linke von der Innerl sein, wia bei der Tortn, Hauptsache, es gibt wieda an Kaffee.
Des woar oba a Füh’einschätzung. Die Maschin hat net gescheit funktioniert. Nur ganz langsam ist da Kaffee durchg‘runna, Tropfen für Tropfen. Wie bei der Edda in letzta Zeit. Wir ham der Innerl nicht widersprochen, als sie der Edda unterstellt hot, sie hätt’ die Maschine ausgetauscht. Ein poar von uns sind nachher zur Edda gegangen, auf an Kaffee. Und siehe da: Bei ihr is da Kaffee durchgeronnen, so a Zufall! Wir ham des net der Innerl gsagt, aba irgendwie hat sie’s doch erfoarn. Da woar wos los. Zur Kieberei ist die Innerl glaufn und hat sich beschwert. Und weil sie so lästig woar, sind die Kieberer nach ein paar Tagen doch zur Edda gegangen, zum Lokalaugenschein. Die Innerl ist mitg‘kuma, aber die hom zwei starke Männer festholtn müssen, sonst hätt’s der Edda die Augn ausgekratzt.
Die Edda woar aba ganz ruhig und hot gsagt, des is a Unterstellung. Dann hot sie ihre Maschine vorgeführt: Die hat nu’ a nimma richtig funktioniert. Die Edda hat sich aufg’budelt: Und sag ich jetzt, die Pschemysl hätt’ mei’ gute Maschin gegen ihre ausgetauscht? Der Innerl ist alles runterg‘foalln und, als die Kieberei zu ihr gegangen ist und ihre Maschine angeschaut hat, woar sie, glaube ich, ganz erleichtert, daß ihre Maschine auch net gescheit gegangen ist.
Nach einiger Zeit hat sich alles wieder beruhigt. Die Edda hat sich so eine neumodische, große Espressomaschine gekauft, und die Innerl hat ihre alte, kaputte Kaffeemaschine behalten. Aba wir sind trotzdem weiter zur Innerl gegangen, denn sie hat doch an Spaß verstanden.
Anton Martin Mühlwasser

Samstag, 24. Januar 2009

Kommissarin 7 - Kapitel 2

Kommissarin Breugel wäre eine sehr tüchtige, effiziente Ermittlerin, hätte früher in der Mordkommission gearbeitet, dann beim Betrugsdezernat – hier unterbrach sich meine Gesprächspartnerin unvermittelt und blickte betroffen zu Boden –, bis vor etwa sieben Jahren die »Abteilung für die Aufklärung ungelöster Fälle« gegründet und der Kommissarin die Leitung übertragen worden war. Wie groß denn die Abteilung wäre? Na ja, Frau Ablage druckste herum, von wegen die Polizei hätte kein Geld, etcetera, etcetera, und wenn so was Einzigartiges in Europa, also gut, die Abteilung wäre eher bescheiden ausgestattet und bestünde ausschließlich aus deren Leiterin, der Kommissarin Breugel. Eine Sekretärin gäbe es auch, Teilzeit. Außerdem war, erfuhr ich, die Abteilung nicht in dem Polizeigebäude untergebracht.
Sie hatte mich neugierig gemacht. Das roch ja nur so nach einer schiefen Geschichte, als hätten sie da wen loswerden wollen, wegloben oder so. Wahrscheinlich würde mir die Steiner nicht mehr verraten, daher schwieg ich und beschloss, Augen und Ohren offen zu halten und an gegebener Stelle Fragen zu stellen.
Dass die Kommissarin Breugel gleich der Steiner ein Arbeitstier war, erkannte ich in Kürze, als ich mir die ersten Akten, im Jahr 1996 (nach)bearbeitet und übermittelt, zu Gemüte führte (diese waren noch ganz gut auszumachen, ganz links im Kasten – später wurde alles nur mehr hineingeworfen). Sie musste wie eine Irre geschuftet haben. Sie hatte sich in die alten (veralteten, würde ich meinen) Fälle vertieft, hatte bislang unbekannte Zeugen ausgeforscht (zum Teil leider mit Wohnortadresse Friedhof – doch selbst das wurde präzise angeführt) und mit noch lebenden Gespräche geführt, manchmal alte (Bau- oder Flächenwidmungs-)Pläne ausgehoben, unzählige Akten von anderen Dienststellen angefordert (was das für mich bedeutete, war auch klar!), Orte des Verbrechens persönlich aufgesucht, Einsicht in alte Geschäftsberichte genommen, diverse Hypothesen entwickelt, bevor sie endlich zu ihrer Bewertung kam.
Nicht nur, dass sie jeden Fall ausführlich behandelte, sie hatte auch unglaublich viele Akten in vergleichsweise kurzer Zeit abgearbeitet. Wollte sie ihre Chefs überzeugen, wie tüchtig sie war? Oder wollte sie sich selbst ihre Effizienz beweisen?
Nach vier, fünf Akten reichte es mir. Die Bewertungen wären eigentlich ganz interessant zu lesen, wären sie nicht so brav, unter Berücksichtigung sämtlicher Eventualitäten, formuliert worden. Aber diese dämliche Ablage, die Auflistung sämtlicher Akten! Ich verfluchte die Steiner und überlegte, ob ich die Liste einfach unter den Tisch fallen lassen konnte. Leider kam sie regelmäßig vorbei, um sich zu erkundigen, wie es mir bei der Arbeit ging. Ich wusste Bescheid: In Wirklichkeit wollte sie mich kontrollieren. Sie stand hinter mir, griff ungefragt nach Formularen, die ich ausgefüllt hatte, las diese mit zusammengepressten Lippen durch und strich mit einem Rotstift Tippfehler an. So was von zwänglerisch!
Ich konnte so nicht weitermachen. Daher entschied ich mich, meine Vorgangsweise zu ändern. Ich wollte mir zunächst einen Überblick verschaffen, wieviel Arbeit mich erwartete. Ich nutzte die Gunst des Augenblicks (beziehungsweise der nächsten zwei, drei Stunden, in denen Feldwebel Steiner bei einem Arzt weilte), schob in dem Sonder-Archiv das sich weit erstreckende Anden-Gebirge an zu bearbeitenden Akten enger zusammen, so dass es mehr an den Himalaya erinnerte, und räumte den Kasten aus. Ich legte die Akten am Boden auf, gestapelt nach dem Jahr der Bearbeitung. 1996 war ein Wahnsinn, obwohl die ersten bewerteten Fälle erst nach dem Sommer eingetroffen waren. 1997 war um nichts besser. Für diese beiden Jahre benötigte ich mehrere Stapel am Boden. Ich dachte schon daran aufzugeben, als mich ein Umstand stutzig machte. Ich hatte bereits ein gutes Drittel des Kastens geleert und ausschließlich Akten zu den Jahren ´96, ´97 und ein wenig zu ´98 identifiziert. In der Hoffnung, dass der Arbeitseifer der Kommissarin im Laufe der Zeit nachgelassen hatte, aktivierte ich den Restbestand meiner Motivation und fuhr fort.
Es zahlte sich aus. Als ich endlich, nach getaner Arbeit, mit wundem Rücken, vor meinem Werk stand, zeigte sich ein aufschlussreiches Muster. Der Kommissarin war tatsächlich die Luft ausgegangen. Nach dem Boom der ersten drei Jahre (wobei, wie eine detailliertere Analyse zeigte, sie zwischen September und Dezember 1998 keinen einzigen Fall abgeschlossen hatte) wurden im Jahr 1999 lediglich drei Akten übermittelt und im Jahr darauf immerhin sieben. Waren die etwa woanders hingeschickt worden, fragte ich mich. Diese Überlegung würde ich sicher nicht laut äußern, denn für mich war diese Entwicklung gut. Außerdem bewies mir ein Blick in die Akten jener Jahre, dass die Kommissarin nicht mehr so recht bei der Sache war. Extrem kurze Bewertungen (»Nach Prüfung der Informationen komme ich zu dem Schluss, dass dieser Fall als unaufklärbar abgeschlossen werden muss.«), keine zusätzlichen Dokumente wie Protokolle oder Lagepläne. Nichts. Es schien, als hätte die Kommissarin darauf verzichtet Ermittlungen durchzuführen.
Ab 2001 nahm die Anzahl der übermittelten Akten wieder zu, Tendenz steigend. Die Bewertungen wurden ausführlicher, und ich erinnere mich, beim Überfliegen gedacht zu haben, die wirkten auf mich mehr wie ein literarischer Text als Akten der öffentlichen Verwaltung. Ich ertappte mich dabei in eine Bewertung vertieft zu sein, als würde ich einen Krimi lesen. Deshalb beschloss ich, zunächst die ab 2001 übermittelten Fälle zu bearbeiten. Erstens war dies eine überschaubare Zahl, und zweitens schienen die interessanter. Ich räumte die Akten, welche im vorangegangenen Jahrhundert von der Kommissarin Breugel geprüft worden waren, wieder in den Kasten. Würde mich die Steiner zu den von mir gebildteten Stapeln am Boden befragen, würde ich ihr mit freundlichem Lächeln erklären, ich hätte mir ein paar Akten herausgelegt, die ich als nächstes erfassen wollte. Ich musste ihr ja nicht meine Strategie auf die Nase binden (sollte sie sich nach meinem Abgang mit der öden Altlast herumschlagen!), und im Übrigen hatte mir niemand angeschaftt, chronologisch vorzugehen.
In dieser Entscheidung sah ich mich am nächsten Tag bestärkt, als, kaum dass ich am Morgen meinen Arbeitsplatz erreicht hatte (sie hatten mir einen schmalen Computertisch mit PC in eine Ecke gestellt), ein Bürobote erschien und einen braunen Umschlag der Hauspost abgab. Frau Schmeißer, ein wenig verärgert, dass sie aus der Zeremonie der Kaffeezubereitung heraus gerissen wurde, warf einen desinteressierten Blick darauf. »Wieder einmal ein lieber Gruß von unserer hochgeschätzten Ka-Be«, stellte sie mit einem, wie mir schien, leicht verächtlichen Unterton fest.
»Sie hat doch erst vor ein paar Tagen was geschickt«, wunderte sich das Frühstücksei, »so fleißig.« Sie kuderte.
Die dritte im Bunde traf einen praktischen Entschluss. »Das können wir dem René geben. Hast gleich was zu tun, in der Früh.«
Ich ergriff den Umschlag und sagte in Richtung von Frau Steiner, die natürlich (wie könnte es anders sein!) in die Arbeit vertieft war: »Ich kann ja diese Akte zwischendurch einschieben, es muss nicht chronologisch sein.«
An ihrer Stelle antwortete Frau Schmeißer: »Selbstverständlich. Wichtig ist nur, dass es schlussendlich chronologisch abgelegt ist, aber in welcher Reihenfolge es bearbeitet wird, ist egal. Hauptsache, ein Teil wird mal abgearbeitet.« Das klang beinahe, als glaubte sie ohnehin nicht daran, dass die Ablage dieser alten Akten je abgeschlossen werden könnte.
Noch ein wenig verschlafen öffnete ich die Akte »Stanislav Gomm CoKG«. Sie war ziemlich dick. Das meiste davon alte Protokolle, Schriftstücke. Die Bewertung war knapp ausgefallen; eine Beilage, ein Protokoll mit einer aufgetriebenen Zeugin von anno dazumals, war beigefügt.
Nachdenklich beobachtete ich die drei Kaffeetanten. Meine Gedanken schweiften ab. Nachdem ich das Gespräch, das die Kommissarin kürzlich mit Berta Schmalbaum geführt hatte, gelesen hatte, fühlte ich mich unsicher, ertappt. Was diesem Reinhard beziehungsweise Reni (diese Namensähnlichkeit mit René machte mich stutzig) passiert war, glich so sehr meiner eigenen Geschichte mit Sandra. Was für ein erstaunlicher Zufall!

Freitag, 23. Januar 2009

Komissarin 6 - Kapitel 2

Ihre Kolleginnen hatten sich soeben über einen eingelangten Aktenstoß amüsiert: »Na, fleißig, unsere KB. Hat wieder ein paar Fälle gelöst!«
Frau Steiner, die in ihre Arbeit vertieft schien, hatte aufgesehen und gefragt: »Wären die Breugel-Akten nichts für unseren Lehrling?« Ich war zusammengezuckt. Lehrling! So tief war ich gesunken!
»Praktikant«, hatte Frau Schmeißer korrigiert. »Die KB-Akten für unseren René?« Sie überlegte, ihre beiden Mitstreiterinnen beim Kaffeekränzchen schwiegen. Frau Schmeißer war diejenige des Trios, die entschied. Statt zu einem Entschluss rang sie sich zu einer Frage durch: »Was soll er denn machen?«
»Das ist doch eine Schande, dass da nichts weiter geht«, hatte Frau Steiner losgepoltert. Die drei Kaffeedamen hatten die Köpfe gesenkt. Ein wenig schuldbewusst, schien mir. »Da haben wir eine eigene Abteilung für ungelöste Fälle, einzigartig in Europa, was sage ich, einzigartig auf der Welt, mit einer engagierten Frau, die sich bemüht, die zwanzig, dreißig Jahre alten Fälle zu lösen. Und wir schauen uns gar nicht an, wie sie diese aufgeklärt…«
»Wer behauptet, dass sie die Fälle immer lösen kann?« unterbrach Frau Kurz, die dritte in der Kaffeerunde.
»Aber nicht einmal das prüfen wir«, empörte sich Frau Steiner. »Wir wissen überhaupt nicht, wie viele Fälle Kommissarin Breugel wirklich aufklären konnte. Außerdem ist das nicht ihr Job. Kommissarin Breugel hat die Aufgabe, alte, ungelöste – oder sagen wir besser – offene Fälle zu bearbeiten, sie zu bewerten und zu einem Abschluss zu bringen.« Ihre Stimme klang plötzlich sehr förmlich. »Das heißt nicht unbedingt lösen. Oft können die Zeugen nicht gefunden werden, sind verstorben … In einem Fall genügt die Feststellung, dass der Fall wegen tempora passata, wegen der verstrichenen Zeit, nicht weiter bearbeitet werden kann.«
Ich hatte ungläubig das Gespräch verfolgt. »Alte Fälle?« erkundigte ich mich verwundert. Das hörte sich nach verstaubten (passte zum Archiv!) Geschichten an.
»Verjährte Fälle«, kicherte das Frühstücksei und schien wie die ihr namensgebende Figur in »Alice im Wunderland« zu hüpfen.
Sie erntete einen bösen Blick von Frau Steiner. »Fälle, wo keiner weitergemacht hat. Unterbrochen, weil was anderes dazwischen kam. Die Akte unvollständig, ohne Abschlussbericht, Protokolle fehlen, müssen erst von anderen Dienststellen eingeholt werden und so weiter. Es ist keine Ordnung drin.« Das war es, was die Steiner störte, dachte ich. »Das gehört aufgearbeitet. Nicht unbedingt die Fälle gelöst, aber formal muss es seine Richtigkeit haben. Damit wir die Akte ablegen können.« Erneut ein strenger, verweisender Blick in Richtung Meier, der ein Kichern entschlüpft war. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Frau Steiners Vorliebe, um nicht zu sagen, Wahn für eine korrekte Ablage war allseits bekannt. Hätte ich nicht fassungslos dem Gespräch gelauscht, wäre ich wahrscheinlich auch in unbändiges Lachen ausgebrochen.
Alexandra Steiner fuhr unberührt fort: »Da übernimmt und erledigt Kommissarin Breugel die Arbeit – und was machen wir? Schmeißen die Unterlagen ungeschaut wieder ins Archiv. Statt uns die Zeit zu nehmen und sie aktenmäßig zu erfassen.« Sie schüttelte bedauernd, nahezu entsetzt den Kopf. »Aber ich schaffe es nicht. Wenn wir das laufend gemacht hätten, wäre das eine Viertel-, halbe Stunde pro Tag gewesen. So ist es in den letzten sechs, sieben Jahren angewachsen.« Eine Viertel-, halbe Stunde pro Tag, überlegte ich, also realistisch eine Stunde für jemanden, der nicht die steinerische Effizienz besaß. Wieviel Zeit verbrachten ihre Kolleginnen täglich rund um die Kaffeemaschine?
Meine Gedanken waren bei den Worten »Archiv« und »erfassen« hängen geblieben. »Muss das elektronisch eingegeben werden?« fragte ich nach.
»Ja«, sagte Frau Schmeißer, die es an der Zeit fand, wieder einmal auf ihre Zuständigkeit für mich zu pochen. Nur einen Moment später kam ein klares »Nein« seitens der Steiner.
Frau Schmeißer zog sich zurück. »Na, Alexandra, du machst das schon mit dem Praktikanten.« Lächelnd wandte sie sich an ihre beiden Treuen: »Wie wär’s jetzt mit einem Kaffeetscherl nach all der Aufregung?« Auf deren zustimmendes Nicken wandte sich das Trio ihrer Lieblingsbeschäftigung zu und bot uns (der Steiner und mir) den Rücken.
Mir wurde mittlerweile erklärt, dass langfristig eine elektronische Eingabe geplant wäre, aber die Entscheidung darüber seit Jahren ausstünde. Es gäbe da einen Auslegungskonflikt, ob dies unter den Milleniumserlass fiele, zwischen dem Büro des Präsidenten und … Da unterbrach sich die Steiner, wollte mir nicht mehr verraten.
Sie zeigte mir ein Formular, das für jeden Akt anzulegen wäre. Darin sollten die Informationen zu dem Verbrechen (Name des/der Opfer, Art, Zeitpunkt und Ort der Straftat), dem Stand der damaligen Ermittlungen sowie die Bewertung durch Kommissarin Breugel eingetragen werden.
»Das muss ich aber nicht mit der Hand ausfüllen?« erkundigte ich mich vorsorglich. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Akten sich in den sieben Jahren angesammelt hatten. Hatte diese Kommissarin Breugel die Effizienz einer Steiner (dann, wehe mir!), oder durfte ich mich auf ein Arbeitstempo wie bei den Kaffeetanten einstellen? Selbst in einem solchen Fall: sieben Jahre sind eine lange Zeit!
Frau Steiner zeigte sich unerbittlich. Die elektronische Ablage wäre noch nicht beschlossen, daher müsste ich das Formular ausfüllen. Selbstverständlich mit der Hand.
Ich wehrte mich vorsorglich gegen den Arbeitsaufwand. »Ich kann doch das Formular im PC nachbauen«, schlug ich vor, »und fülle es elektronisch aus. Das drucke ich aus und lege es ordnungsgemäß ab.« Ich hoffte, mit diesen Schlüsselworten die ablagefanatische Kollegin zu überzeugen. »Jeder kann die Schrift gut lesen, viel besser, als wenn ich mit meiner Klaue schreibe.« Das war allerdings kein wirkungsvolles Argument, hatte ich bereits in wenigen Tage gelernt, denn es musste nur richtig abgelegt sein, ordentlich ausschauen – aber ob es lesbar, geschweige denn verständlich wäre, stand auf einem anderen Blatt. Ich fügte daher hinzu: »Außerdem haben Sie die Informationen auf diese Weise bereits im Computer. Falls die elektronische Erfassung kommen sollte, brauchen Sie die Daten nur zu überspielen.« Ob das Format passen würde, wagte ich zwar zu bezweifeln, da ich mit einem simplen Textverarbeitungsprogramm zu arbeiten plante, aber mich um die Zukunft der polizeilichen Archivarbeit zu sorgen, war wirklich nicht mein Bier (Kaffee wäre in dem Kontext das passendere Wort).
Alexandra Steiner vertrat stur ihren Standpunkt: »Noch ist die elektronische Erfassung nicht beschlossen, also dürfen die Daten nicht im PC erfasst werden.«
Ich wollte gerade darauf hinweisen, dass sämtliche Schriftstücke, Protokolle und so weiter am PC geschrieben und somit elektronisch erfasst wären, als sich plötzlich Frau Schmeißer umdrehte und bestimmte: »Natürlich soll der René das so machen, wie er vorschlägt. Wir werden nachher nicht nochmals alles eingeben.« Wollte die Schmeißer unter Beweis stellen, dass immer noch sie die Chefin der vier Damen vom Archiv war? Vielleicht hatte sie auch mit Schrecken an die Zeit in ferner Zukunft gedacht, wenn die elektronische Erfassung der »neu bewerteten« verjährten Fälle angeordnet würde, Alexandra Steiner längst im wohl verdienten Ruhestand wäre und sie, Schmeißer, sich ohne ihr Arbeitstier mit dem Problem herumschlagen müsste.
Frau Steiner hatte sich schmollend gefügt und angeboten, mich am Nachmittag (»Ich muss vorher noch ein paar dringende Aufgaben erledigen.«) in die Bearbeitung der Breugel-Akten einzuführen.
Ich hatte die Weiten des mir bekannten Archivs gefürchtet, aber Frau Steiner führte mich in einen Nebenraum der Aktenfluchten, durch eine unauffällige Tür getrennt. Der Raum selbst war nicht übermäßig groß, maximal zwanzig Quadratmeter. Es reichte. Auf dem Boden stapelten sich Berge von Akten, an einigen Stellen – wo die Stöße umgefallen waren – ein richtiggehendes Gebirge, dessen Kamm entlang meine Augen entsetzt eine Höhenwanderung absolvierten. »Das kann doch nicht ihr Ernst sein!« dachte ich fassungslos. Zu meinem Glück erfuhr ich, dass dies alles alte Fälle waren, die erst von der Kommissarin Breugel zu bearbeiten wären. Da aber öffnete Frau Steiner einen wuchtigen Kasten, zum Bersten gefüllt. »Das sind die bewerteten Akten, bereit zur Ablage. Das ist Ihr Job.«
»Da drin sind sie eh schon abgelegt.« Zaghafter Widerspruch meinerseits.
Frau Steiner lachte, als hätte ich einen guten Witz erzählt. Mit ernster, fast ein wenig enttäuschter Miene (dass ich noch immer nicht die Bedeutung der Ablage erkannt hatte) wies sie mich darauf hin, dass die Akten zwar in den Kasten gelegt, aber nicht abgelegt wären. Ich wandte mich dezent ab, um vor der so bemühten Mitarbeiterin der polizeilichen Verwaltung mein Grinsen zu verbergen. Meine Aufgabe bestände darin, wurde ich aufgeklärt, die Akten einzeln herauszunehmen – sie abzustauben, warf ich spöttisch ein, was Frau Steiner allerdings als einen konstruktiven Vorschlag wertete und gleich in die Akten-SOP aufnahm –, sie zu »prüfen« (also durchzulesen) und in einem eigenen Ordner die Bewertung der Kommissarin Breugel sowie die von ihr im Laufe der Recherche erstellten und neu aufgenommenen Schriftstücke abzulegen. Die alten, ursprünglichen Unterlagen, die derzeit noch einen Teil der Gesamtakte bildeten, sollte ich entweder in den Weiten des übrigen Archivs einordnen oder, falls sie anderen Dienstposten, etwa der Gendarmarie (die es damals noch gab), gehörten, diesen zu deren ordnungsmäßiger Ablage übermitteln.
»Die wearn a Freid hoam, wenn’s des kriegn«, rutschte mir heraus.
Frau Steiner entging die Spitze. »So können die ihre Archive der fünfziger und sechziger Jahre abschließen«, antwortete sie völlig ungerührt.
Auf diese Weise, wandte ich ein, ahnend, dass das Damoklesschwert nicht an mir vorüberginge, würde ja erst wieder die Akte in lauter Einzelteile aufgedröselt. Auch darauf wusste die Meisterin der Ablage eine Antwort: Der von der Kommissarin bewerteten Akte sollte ein Blatt beigelegt werden, auf dem sämtliche Beilagen (mit Aktenzahl, falls vorhanden, versteht sich) sowie deren »Verwahrungsort« aufgelistet wären.
»Das ist aber ein enormer Aufwand«, wagte ich einen letzten Versuch, diese absolut hirnvertrottelte Arbeit abzuwenden. Keine Chance. Ich durfte mir Zeit lassen (also konnte ich wenigstens ein, zwei Stunden in die Kantine abhauen und behaupten, ich hätte in diesem Sonderarchiv gewerkt), aber ich sollte die Aufgabe ordentlich erledigen, wurde mir auf den Weg mitgegeben.
Wahrscheinlich hatte selbst die unerschütterliche Alexandra Steiner mitbekommen, dass sich meine Begeisterung über die neue Verantwortung, die sie mir anvertraut hatte, äußerst in Grenzen hielt. »Sie werden sehen, die Bewertungen von Kommissarin Breugel sind spannend zu lesen«, versprach sie, um mich aufzumuntern.
Das aus dem Mund einer Beamtin zu hören, deren »Leidenschaft« der Ablage galt, baute mich nicht sonderlich auf. Um die Arbeit ein wenig hinauszuzögern, erkundigte ich mich: »Wo sitzt eigentlich diese Kommissarin Breugel?«
Ich bildete mir ein, ein längeres Zögern wahrgenommen zu haben, bevor Frau Steiner Auskunft gab.

Donnerstag, 22. Januar 2009

Kommissarin 5 - Kapitel 2

Kapitel 2
Ich sah nachdenklich von der Akte auf und überlegte. Frau Schmeißer war wieder einmal mit der Kaffeemaschine beschäftigt; mit Interesse studierte sie, wie die trübe Brühe zäh hinunter tropfte. Ich beobachtete die Kaffeezeremonien mit Skepsis. Denn ich befürchtete, dass die Damen mit dieser starken Benutzung bald ein weiteres Gerät verschleißen würden. Und dann wieder ihre Hoffnung auf handwerklichen Kenntnissen setzten. Nur leider kannte ich niemanden mehr, der eine solche Kaffeemaschine zu Hause stehen hatte.
Hoffentlich hatte Sandra ihrer Mutter nicht gesteckt, wie ich die Kaffeemaschine »repariert« hatte, schoss es mir entsetzt durch den Kopf. Sandra hatte bei ihrem Besuch im Büro lässig fallengelassen, welche ihre Lieblingslokale wären, an welchem Abend sie wo wäre. Diesmal hatte sie sogar die Wahrheit gesprochen, und als ich »zufällig« ihren Spuren folgte, traf ich sie in einem Lokal an. Der Abend war lang geworden, ich hatte viel geredet, um sie zu beeindrucken – und da hatte ich dummerweise mit der Geschichte angegeben.
Der Kaffee war durchgeronnen. »Na, endlich«, seufzte Frau Schmeißer, als hätte sie es nicht mehr erwarten können. Sie füllte den Kaffee in drei Tassen, reichte je eine an das »Frühstücksei«, das während der Zubereitung die ganze Zeit neben ihr gestanden war und die Maschine fixiert hatte, und an die dritte im (Kaffee-)Bunde, die einen bösen Blick zu ihrem Telefon warf, das sich erdreiste, genau in dem Moment zu läuten. »Müssen die gerade jetzt stören«, steckte sie ihre ganze Energie in ein Geschimpfe anstatt einfach abzuheben (wie sie es beim Handy, wenn ihr Mann oder ihre Schwester anriefen, auch mehrmals pro Tag tat). »Nie hat man seinen Frieden!«
Na ja, das stimmte nicht ganz. Obwohl sie ihre Arbeit als »fürchterlich stressig« darstellten, fand ich die Tätigkeit der drei Damen, die sich gerade den Kaffee zu Gemüte führten (das würde – wusste ich aus Erfahrung – mindestens eine halbe Stunde dauern) kaum fordernder als jene ihrer Kollegen in der Kopierstraße. Sobald es ein wenig anspruchsvoller wurde, werteten das die Beamtinnen als »außerhalb meiner Kompetenz« – und die Akte landete auf dem Steinerschen Tisch.
Alexandra Steiner war die Einzige in dem Zimmer, die tatsächlich intensiv arbeitete. Sie nahm auch nie an den Kaffeerunden teil (in der Früh erschien sie mit einem Plastikbecher vom Kaffeeautomaten in der Hand, um Zeit zu sparen), sondern hackelte, unter konsequenter Einhaltung einer Mittagspause in der Kantine von genau fünfzehn Minuten, von einer Uhrzeit am Morgen, zu der ich mich noch weit vom Büro entfernt befand, bis am frühen Abend.
Sie war es auch, die Arbeit für mich »gefunden« hatte.