Buchtipp: "Die vierundfünfzigste Passagierin"

Lisa, die biedere Büroangestellte, fühlt sich ausgebeutet und unverstanden. Eine Dienstreise wird zum Sprungbrett für die vermeintliche Freiheit. Sie kehrt dem Arbeitsalltag den Rücken. Die Flucht aus dem öden Dasein birgt allerdings ungeahnte Gefahren. Und Mona, die Lisa für ihre Lebensretterin hält, ist der Aussteigerin auf der Spur.

"Die vierundfünfzigste Passagierin", der erste Roman von Franca Orsetti, erschienen im UHUDLA-Verlag.

480 Seiten, Farbeinband. Euro 17,80. Erhältlich im guten Fachhandel oder direkt beim UHUDLA (Bestellformular)

Donnerstag, 5. Februar 2009

Kommissarin 13 - Kapitel 4

Kapitel 4
Die Steiner ist wirklich ein Arbeitsvieh. Den letzten Zahnarzttermin, wo ihr ein Implantat eingesetzt wurde, hatte sie auf Freitag Nachmittag gelegt, damit sie nicht wieder Stunden von der Arbeit weg wäre. Mit dem Ergebnis: Ein versautes Wochenende, als die Backe beunruhigend anschwoll und sie ihren Zahnarzt am wochenendlichen Landsitz nicht erreichen konnte. Den Sonntagvormittag auf der Zahnambulanz. Schmerzen über Schmerzen.
Dennoch war sie am Montag pflichtschuldig in der Arbeit erschienen. Konnte kaum sprechen. Aber die Ablage, die durfte sie doch nicht liegen lassen. Bis sie um zwei Uhr nachmittags schlapp machte. Sich nicht mehr wehrte, als die Kolleginnen sie mit vereinten Kräften überzeugten, doch zu gehen: am besten zum Zahnarzt, jedenfalls aus dem Büro.
Es schien sie wirklich schlimm erwischt zu haben: Am Dienstag meldete sie sich krank. Freude bei dem Trio, das sein Kaffee-Stündchen gleich noch länger ausdehnte und unerträglich kindisch wurde. Zeit zum Fliehen. Adi und Otto hatte ich erst letzen Donnerstag besucht. Hmm! Ich könnte natürlich …
Eigentlich hatte ich es für Mittwoch geplant. An meinem freien Tag. Hätte damit einen guten Grund, die Vorlesungen nochmals zu schwänzen; im Übrigen war ich für das eine Seminar nicht vorbereitet, weil ich bereits in der Woche davor, wegen dieser Sandra, gefehlt hatte. Mein Interesse am Studium hatte mittlerweile wieder nachgelassen, daran waren die beiden Frauen Schuld, die mir aus unterschiedlichen Gründen zusetzten.
Nun aber … Da die Steiner verhindert war. Das Trio sich nicht einmal den Anschein zu arbeiten gab. Meine Anwesenheit (und mein Werken – sollte ich etwa in die Luft schauen?) sie im Grunde störte. Blöd nur, dass ich das Haus verlassen, durch den halben ersten Bezirk marschieren musste. Wenn mich da wer sah? Gegebenenfalls könnte ich immer noch auf naiv tun, von wegen Dienstgang und so. Was soll’s? Das Schlimmste wäre, sie würden mich kündigen. Na, und wenn schon! Dann würde ich das Geheimnis der KB niemals lüften, aber ich liefe wenigstens nicht Gefahr zwischen den Akten zu versauern. (Die Steiner ging allen Ernstes davon aus, dass ich während meiner »Praktikumszeit« alle KB-Akten aufarbeiten würde!) Im Falle meiner Entlassung würde halt mein Alter spinnen und drohen, mir den Geldhahn endgültig abzudrehen. Keine angenehme Perspektive …
Nach einigem Hin- und Her-Überlegen schnappte ich gegen halb zehn meine Tasche, in die ich schon am Vortag, als niemand hergeschaut hatte, einige KB-Akten gesteckt hatte, verabschiedete mich schnell mit einem »Ich muss in der Kopierstelle noch was klären!« (nicht rasch genug, um nicht die offensichtliche Erleichterung auf dem Gesicht der Kurz zu bemerken) und eilte von dannen. Tatsächlich machte ich einen Abstecher zur Kopierstraße, die allerdings nicht besetzt war. Ich legte meinen Freunden einen Zettel hin: »Muss außer Haus was erledigen. Wenn sich wer nach mir erkundigt, sagt, dass ich bei euch war!« Sie würden schon verstehen.
Unbemerkt verließ ich das Gebäude und trat in die frische Luft hinaus. Ein kalter Herbst. Zehn Tage zuvor hatte es sogar geschneit. Flotten Schrittes entfernte ich mich vom Einzugsbereich des Polizeigebäudes und eilte in Richtung Stubentor. In kürzerer Zeit, als mir lieb war, hatte ich mein Ziel erreicht. Meine Schritte verlangsamten sich. Eigentlich wusste ich nicht, wie ich der KB entgegentreten sollte. Natürlich hatte ich Strategien gewälzt: Als Botenjunge der Archivabteilung aufzutreten, Akten zücken, zum Beispiel die neueste, zum LKH Neunkirchen und im Namen der Obrigkeit ausrichten, dass der Fall in keinster Weise gelöst wäre. Ihr also den Akt zurückschmeißen. Irgendwie scheute ich jedoch davor zurück. Ich konnte nicht ausschließen, dass sie bei der Steiner nachfragte, und dann hatte ich den Scherben auf. Außerdem fand ich es unfair, denn sie hatte sich geschickt aus einer dämlichen Situation heraus gewurschtelt.
In dem Haus, wo die Kommissarin residierte, war auch ein Café untergebracht. Eines jener typischen Kaffeehäuser, deren Flair im Grunde in einer unbeschreiblichen Hässlichkeit und Kargheit der Einrichtung besteht. Ich beschloss, den Besuch bei der KB hinauszuzögern und bei einem großen Braunen meine Vorgangsweise auszutüfteln.
In dieser Vormittagsstunde bewirtete das Kaffeehaus mehrere Gäste, trotzdem wirkte es, wahrscheinlich wegen seiner Größe, eher leer. Ich wählte einen ruhigen Platz. Im Spiegel strahlte mir das Bild einer Frau entgegen, die in die Korrektur von Aufsätzen vertieft war. Eine Lehrerin, wunderte ich mich, am Vormittag?
Ich wandte mich vertrauensvoll an den hageren, Würde ausstrahlenden Ober, als er mir ein Kipferl zum Kaffee brachte, und erkundigte mich, ob er die Frau kenne. Er nickte verständnisvoll, das hätte ihn schon öfters wer gefragt. Die Dame, die regelmäßig ihr Frühstück im Kaffeehaus einnahm und dort oft den halben Vormittag verbrachte, wäre eine bekannte Schriftstellerin. Kiel oder so, hieß sie. Der Name sagte mir nichts. Aber er stank nach einem Pseudonym: Kiel, Federkiel, nicht sehr originell. Eine Krimi-Autorin. So sah sie auch aus, wie aus dem Gruselkabinett importiert. Tat auf intellektuell. Eine eher kleine Frau, schwarzes Kostüm, wasserstoffblonde (sicher gefärbte) Haare mit Pagenschnitt, knallroter Lippenstift und eine riesige schwarze Brille. Als wäre sie nie den sechziger Jahren entkommen.
Ich riss meinen Blick von der Rivival-of-the-Sixties-Tante los und konzentrierte mich, während ich in der fast leeren Tasse umrührte (das sollte meine Gehirnwindungen anturnen), auf meine Aufgabe. Sollte ich doch vorher anrufen? Was könnte ich sagen? Nein, ich entschied mich, bei dem Überraschungsbesuch zu bleiben. Dann könnte ich auch behaupten, ich hätte in der Gegend zu tun gehabt. Die Akten würde ich ihr jedenfalls nicht zurückschmeißen. Das passte nicht mit dem »Ich-bin-zufällig-hier«-Argument zusammen, und im Übrigen hatte ich die Akten, die ich bei mir trug, bereits eingegeben. Damit leistete ich mir selbst keinen Gefallen. Ich beschloss nach einigem Hin und Her, ich würde bei mir anläuten, mich als Bearbeiter ihrer Akten vorstellen und mich erkundigen, ob sie schon neuere Unterlagen hätte. Ich hätte eine Besorgung in der Nähe erledigt, und da hätte ich gedacht, dass es sinnvoll wäre, wenn diese mitzunehmen, anstatt die Post zu bemühen … Und so weiter.
Ich schaffte es, nach einer geschlagenen Viertelstunde endlich zahlen zu dürfen und brach auf. Die Madame-Tussaud-Figur im kleinen Schwarzen war auch schon gegangen. Gespannt und doch zögerlich betrat ich den nur mit Mühe zu entdeckenden Eingang mit der Hausnummer 24b und stand verwirrt im Gang herum. Welches Stockwerk? Eine Tafel ordnete Türnummern Parteien zu. Das half mir nicht weiter. Also alle Türen abklappern. Die Frage war nur: Wollte ich mit dem Lift in den letzten Stock fahren und danach gemütlich herunterspazieren oder zu Fuß die Höhen eines Wiener Altbaues erklimmen?
Ich entschied mich für die zweite Variante. Erstens bin ich sportlich, zweitens kam mir dieser gusseiserne Käfig, der sich Aufzug nannte, nicht übermäßig vertrauenserweckend vor (und in dem leeren Haus könnte ich womöglich lang auf Hilfe warten!), und drittens vermutete ich ein der polizeilichen Hoheitsgewalt unterstelltes Büro nicht gerade in schwindelnder Höhe.
Das Haus hatte es in sich: Mezzanin, Hochparterre, alles, was das Wiener Bauherz begehrt. Da hatte ich zweieinhalb Etagen erklommen – und befand mich noch gar im ersten Stock! Meine Theorie eines niedrig gelegenen Amtssitzes verlor mit jedem Stockwerk an Fundament.
Endlich, nach vier Etagen (das heißt, offiziell war ich erst im zweiten Stock) kam mir wer entgegen. Eine kleine Frau, ich wäre versucht zu sagen, mollig, aber sie war durchtrainiert (wahrscheinlich neigte sie zur Leibesfülle, die sie aber runtergehungert oder -gesportelt hatte), mit kurzem, stacheligem Haar (erinnerte mich an die Mickey-Figuren in der Betthupferl-Sendung in meiner Kindheit), im typischen Jogging-Gewand. Ein Detail irritierte mich jedoch: Sie war ungeschminkt, was ihr trotz ihres Alters (fünfunddreißig oder gar schon vierzig?) stand, auf ihren Lippen schimmerte allerdings ein Hauch knallig roter Glanz – als hätte sie einen Lippenstift aufgetragen und wieder abgewischt.
Ich sprach sie an. Sie wirkt überrascht, schien das Büro der KB nicht zu kennen. Sie gab mir den Rat, die Unterlagen bei den Briefkästen zu deponieren. Das würden viele so machen, es käme schon nichts weg. Nein, widersprach ich, abzugeben hätte ich nichts, ich müsste persönlich zur Frau Kommissarin, hätte – fügte ich hinzu, um glaubwürdiger zu wirken – einen Termin bei ihr. Damit schien ich sie (schloss ich damals aus ihrem Gesichtsausdruck) beeindruckt zu haben.
»Na ja, muss ich halt noch weiter schauen«, verabschiedete ich mich von der Sportlerin. Sie wünschte mir »Viel Glück« und bewegte sich in Richtung ebene Erde. Nach zwei, drei Stufen drehte sie sich plötzlich um und rief: »Meinen Sie etwa die Ka Punkt Breugel? So steht’s auf dem Türschild!«