Buchtipp: "Die vierundfünfzigste Passagierin"

Lisa, die biedere Büroangestellte, fühlt sich ausgebeutet und unverstanden. Eine Dienstreise wird zum Sprungbrett für die vermeintliche Freiheit. Sie kehrt dem Arbeitsalltag den Rücken. Die Flucht aus dem öden Dasein birgt allerdings ungeahnte Gefahren. Und Mona, die Lisa für ihre Lebensretterin hält, ist der Aussteigerin auf der Spur.

"Die vierundfünfzigste Passagierin", der erste Roman von Franca Orsetti, erschienen im UHUDLA-Verlag.

480 Seiten, Farbeinband. Euro 17,80. Erhältlich im guten Fachhandel oder direkt beim UHUDLA (Bestellformular)

Samstag, 31. Januar 2009

Kommissarin 12 - Kapitel 3

Wie peinlich? Was sollte ich sagen? Ich nickte und nannte den erstbesten Namen, der mir einfiel: »Ja, auf Frau Alexandra Schmeißer.«
»Alexandra Schmeißer?« Die Frau wiegte nachdenklich den Kopf. »Schmeißer, haben Sie gesagt? Nicht, Schießer? Alexandra Schmeißer, die kenne ich nicht. Aber wir sind ja auch so viele hier. Am besten, Sie fragen in der Verwaltung nach.« Ehe ich mich versah, begleitete sie mich zu einer Art Rezeption. »Ah, die Frau Walter beschwert sich wieder übers Essen«, kommentierte sie eine aufgeregte ältere Dame, die mit der einzig verfügbaren Mitarbeiterin heftig diskutierte. »Ich lass’ Sie jetzt alleine«, verabschiedete sich die selbst erkorene Begleiterin von mir, »bis die Walter fertig ist, das dauert.«
Zum Glück. Somit hatte ich Zeit, mir eine Strategie auszudenken. Sollte ich wirklich nachfragen, ob eine Frau Schmeißer im Haus war, zwecks Interviews mit Bewohnern? Das kam mir lächerlich vor, wie das Verhalten eines eifersüchtigen Gockels. Nein, das ging nicht. Ich wagte jedoch nicht, den Raum zu verlassen, womöglich lauerte die Dame, die mich in die Verwaltung geleitet hatte, draußen auf mich, um sich zu erkundigen, ob ich die gewünschte Auskunft erhalten hätte.
Die Zeit wurde knapp. Die Mitarbeiterin bemühte sich seit geraumer Zeit, Frau Walter zu verabschieden. Bald wäre ich an der Reihe. Da hatte ich einen Geistesblitz: Berta Schmalbaum. Die Alte aus der KB-Akte. Ja, ich würde nach Berta Schmalbaum fragen. Wenn sie mich zu ihr begleiten wollten? Warum nicht? Von einer Sekunde auf die nächste war ich von der Idee begeistert, Berta Schmalbaum persönlich kennen zu lernen. Vielleicht könnte sie mir von dem Besuch der Kommissarin berichten. Wie die KB so wäre. Wenn ich schon das eine Problem, Sandra, nicht meisterte, käme ich vielleicht bei dem zweiten Geheimnis, der KB, ein Stück voran.
Ich war so sehr von dieser Vorstellung berauscht und bemerkte daher gar nicht, dass Frau Walter endlich abgefertigt worden war. Erst als mich die Mitarbeiterin zum zweiten Mal ansprach, reagierte ich und nannte den Namen der gesuchten Bewohnerin. Ich sah das Gesicht der Angestellten sich verdüstern und hörte sie mit professionellem Mitleid murmeln: »Mein Beileid.«
Ich verstand nicht. Verwirrt fragte ich nach. Wohnte Frau Schmalbaum nicht hier?
Die Mitarbeiterin wich meinem Blick aus und begann in den Unterlagen zu kramen. Schließlich legte sie mir die Kopie einer Pate hin. »Es tut mir Leid, Frau Schmalbaum ist verstorben. Kürzlich. Ich dachte, Sie wussten das. Es wurde sogar im Bezirksblatt bekannt gegeben.«
Bedauernd schüttelte ich den Kopf. Ihr Ableben irritierte mich. Mittlerweile hatte ich mich in meine Idee verrannt, und ich hätte gerne die Alte, die witzig gewirkt hatte, kennengelernt.
»Sind Sie ein Verwandter?«
»Nein, es war…« Verzweifelt suchte ich nach einer glaubwürdigen Begründung. Ich hörte jemanden hinter mir die Tür öffnen. Die hereintretende Person enthob mich einer Erklärung und erlaubte der Mitarbeiterin, mich mit den Worten »Sie können das gerne mitnehmen« abzufertigen. Gedankenlos packte ich die Pate ein, als ich neben mir eine vertraute Stimme sagen hörte: »Ich würde mich noch gerne persönlich bei der Leiterin verabschieden, dass sie mir so kurzfristig ermöglicht…«
»Sandra!« entfuhr mir überrascht.
Der Blick, mit dem sie mich maß, hätte töten können. »Sieh an, was machst du denn da?« Natürlich hatte sie mich durchschaut.
»Sie kennen sich?« wunderte sich die Mitarbeiterin. »Der Herr wollte Frau Schmalbaum besuchen, aber leider« – ihre Stimme wurde leiser – »ist sie vor einiger Zeit von uns gegangen.«
»Was für ein bedauerlicher Zufall!« ätzte Sandra. Die Angestellte sah sie angesichts dieser Pietätlosigkeit pikiert an und fragte mich: »Wollen Sie auf die Dame warten?«
»Das will er sicher«, entgegnete Sandra an meiner Stelle.
Der Weg zur Straßenbahn war kein Honiglecken. Sandra war stinksauer auf mich. »Ich soll dir die Geschichte abnehmen, dass du diese Schmalbaum besuchen wolltest. Wahrscheinlich hast du ein Gespräch belauscht, dass diese Dame gerade gestorben ist.«
»Sandra, glaub mir…«
»Ha ha«.
Dummerweise erwähnte ich, dass Berta Schmalbaum im Zusammenhang mit den KB-Akten stand. Sandra drohte an, bei ihrer Mutter nachzufragen. Mist, das hätte mir gerade noch gefehlt! Daher entschied ich mich die Lüge, die ja nicht so fern von der Wahrheit lag: »Okay, Sandra, du hast Recht. Das mit der Berta Schmalbaum habe ich mir ausgedacht. Ich bin wegen dir hergekommen, ich wollte dich abholen, dachte, es ginge sich der Zoo noch aus.«
»Hast du nicht am Mittwoch Vorlesungen?« Was sie plötzlich alles wusste!
»Ich dachte, du freust dich, wenn ich dich abhole.«
»Freuen. Ha!« Die Straßenbahn war in die vor uns liegende Haltestelle eingefahren. Sandra fing an zu laufen und rief mir zu: »Ich finde allein nach Hause!« Zähneknirschend musste ich zuschauen, wie sie in die Niederflurstraßenbahn hüpfte.
»Hey, Kumpel« – der Rempler von Adi brachte mich wieder in die Realität zurück – »Liebeskummer oder diese Kommissarin?«
Ich riss mich von der Erinnerung los. »Beides«, murmelte ich.
»Kannst dich nicht für eine der beiden Weiber entscheiden?« spottete Otto.
»Blödsinn«, widersprach ich. »Die Kommissarin kenne ich doch gar nicht.«
»Dann schnapp’ dir mal ein paar Akten und marschier’ zu ihr rüber!«
Ich starrte Otto überrascht an. Der Vorschlag hatte was für sich.

Freitag, 30. Januar 2009

Kommissarin 11 - Kapitel 3

Wer die Schmalbaum war? Na, jene Altersheimbewohnerin, welche die KB noch vor kurzem befragt hatte. In dem Fünfziger-Jahre-Fall mit der Werkstätte, wo ein Wanderarbeiter (oder war es doch ein Student?) verschwunden war. Keine Leiche, nichts. Zuerst hatte er sich, obwohl ihm die Arbeit nicht lag, dort anstellen lassen, wegen eines Mädels (dumme Parallele zu mir!), danach war und blieb er verschollen.
Ich hatte nicht nachrecherchiert; das mit der Schmalbaum hatte ich rein zufällig rausgefunden. Eigentlich war die Sandra dran schuld. Mit ihrer Geheimniskrämerei. Und ihren Lügengeschichten. In ganz Wien hingen diese überdimensionalen Plakate von dem »ach so« herzigen Elefantenbaby herum, das es im Tierpark Schönbrunn zu bestaunen gab. Ich konnte mich wirklich nicht dafür begeistern, hielt dies für eine Werbemasche eines privatisierten Zoos, der sich mit Hilfe von allerlei Einfällen und überhöhten Eintrittsgeldern am Markt zu behaupten versuchte, aber Sandra wollte unbedingt den kleinen Jumbo sehen. All ihre Freundinnen hätten ihn schon bewundert, nur sie noch nicht … Also gut! Natürlich erklärte ich mich bereit, mit ihr zu dieser absoluten Besonderheit Wiens zu pilgern.
»Nächsten Mittwoch«, hatte sie vorgeschlagen.
Natürlich hatte ich an den Abend gedacht. Wir trafen uns immer abends. »Ich dachte, da hättest du keine Zeit«, hatte ich mich gewundert und es nicht lassen können, mit spöttischer Miene festzustellen: »Du hast doch dieses Proseminar, oder was auch immer das ist.«
Mir war es aufgefallen: Unter dem Make-Up war sie rot geworden. »Das ist auch am Abend. Wir gehen doch nicht zu später Stund’ nach Schönbrunn. Für die Nachtbesuche muss man sich monatelang vorher anmelden.« Was sie nicht alles wusste! »Ich dachte, zu Mittag, am frühen Nachmittag. Du hast doch am Mittwoch deinen freien Tag.«
Hatte sie sich das gemerkt! Es freute mich, dass sie mir mehr Interesse entgegenbrachte, als sie vorgab. Okay, dass ich eigentlich mehrere Vorlesungen an dem Tag belegt hatte, hatte sie verschwitzt, und ich wollte es auch nicht so eng sehen. Wir vereinbarten uns für den kommenden Mittwoch, ein Uhr, U-Bahnstation Hietzing.
Auf Frauen ist kein Verlass. Am Dienstag rief sie an und sagte ab. »Begründung«: Sie müsse für die Uni was fertigstellen. Ha ha. Das ausgerechnet in den zwei Stunden, in denen wir »das herzige Elefantenbaby« anschauen wollten.
Ich ließ sie spüren, dass ich ihr kein Wort abnahm. »Etwa für das Proseminar am Mittwoch Abend?« Wahrscheinlich hatte der Typ, mit dem sie sich am Abend traf, diesmal zu Mittag Zeit. Und der ging natürlich einem René vor, der sofort angelaufen kam, wenn sie nur einmal mit ihren grünen Augen funkelte.
Ich hatte sie mit meiner spitzen Art vor den Kopf gestoßen. Sie bemühte sich um eine Erklärung: »Wir sollen Interviews mit älteren Menschen machen, um Einblick über die Zeit der dreißiger, vierziger, auch fünfziger Jahre zu bekommen. Eigentlich hätte gestern eine entfernte Großtante zu meiner Mum auf Besuch kommen sollen, und ich dachte, ich verbinde das gleich. Dann hat sie kurzfristig abgesagt, weil es ihr nicht gut ging.« Hey, diese Geschichte stimmte sogar. Sandras Mutter hatte von dem geplatzten Besuch erzählt. Die Schmeißer hatte das ganze Wochenende gebacken. Umsonst. Die großtantlich missachteten Kuchenstücke hatte sie Dienstag früh der Kaffeerunde angeboten. »Daher habe ich rasch umdisponieren müssen. Ich habe in einem Altersheim gefragt, ob ich dort mit ein paar Leuten sprechen könnte. Es war schwierig genug, einen Termin zu bekommen. Weißt du, so kurzfristig.«
»Wieso kurzfristig?« hatte ich mich dumm gestellt.
»Na ja, ich brauch’s bis Mittwoch Abend.«
»Hast du da ein Geschichte-Seminar?« Wollte sie mir einreden, sie bräuchte das für ihr Betriebswirtschaftsstudium?
»Geschichten?« Sie schien unangenehm berührt. »Nein, ich benötige das für ein Soziologie-Proseminar.«
Hatte sie sich wieder fein herausgeredet. Aber besuchte sie nicht am Mittwoch Abend ein Proseminar in Kostenrechnung? Hatte sie jedenfalls auch mal behauptet.
»An welches Altersheim hast du dich gewandt? An das Geriatriezentrum am Wienerberg?« Es war das Einzige, das mir einfiel. Ach ja, in einer KB-Akte war es erwähnt worden.
Sie ergriff das Hölzerl, das ich ihr geworfen hatte. »Genau«, tat sie ein wenig auf überrascht, »dort habe ich einen Termin. Am Mittwoch um eins.« Quasi, als wollte sie mir vermitteln, dass sie noch weitere Altersheime kannte, fügte sie hinzu: »Weißt du, Lainz wollt’ ich nicht nehmen, nach dem, was dort immer wieder passiert.«
»Soll ich dich begleiten?«
Erwartungsgemäß lehnte sie ab.
Nicht, dass ich sie kontrollieren wolle, redete ich mir ein, als ich am Mittwoch, um etwa halb zwei am Reumannplatz in die Straßenbahn Nummer 67 in Richtung Otto-Probst-Platz einstieg. Ich wusste in meinem Inneren, dass sie mich mit ihren Geschichten an der Nase herumführte. Natürlich wäre sie nicht dort. Aber ich könnte so tun, als ob ich ihr glaubte und sie abholen, überlegte ich, als die Straßenbahn den Hügel entlang einer gelben Wohnhausanlage, von Favoritnern als »Senfburg« bezeichnet, hinab rollte.
Beinahe wäre ich zu spät ausgestiegen. Verwundert starrte ich den Gebäudekomplex an. Das sah mehr wie eine Wohnhausanlage denn wie ein Altersheim aus. Allerdings muss ich gestehen, weiß ich nicht, wie ein Altersheim aussehen sollte. Ich hatte als Kind meine Ur-Großmutter auf der Pflegestation eines Heims mehrmals besucht. Das hatte ich von einem Spital nicht unterscheiden können. Ich konnte mich nur an die bedrückende Atmosphäre, an verwirrte, alte Frauen, die mir über den Kopf strichen und Unverständliches murmelten, und an den entsetzlichen Krankenhausmief erinnern.
Aber das hier, das war ganz was anderes. Auch die Pensionistinnen und Pensionisten, die mir am Weg von der Straßenbahn zum Geriatriezentrum entgegenkamen, wirkten lebensfroh, gepflegt und gesund. Bestenfalls ein Stock oder leichtes Hinken. Von Demenz keine Spur. Die könnte sich dort auch niemand leisten, dachte ich spöttisch, als ich das Gebäude betreten hatte und mich verunsichert umsah. Würde ich hier wohnen, war ich überzeugt, würde ich mich tagtäglich verlaufen.
Mittlerweile war es knapp vor zwei Uhr. Was machte ich hier? fragte ich mich entsetzt, als ich mich unauffällig in einen Fauteuil im Eingangsbereich sinken ließ. Was für eine Schnapsidee, hergekommen zu sein! Sollte ich den ganzen Nachmittag da sitzen und auf Sandra warten, die sicher nicht vorbei kam. Wütend auf mich selbst, blätterte ich gleichgültig die herumliegenden Illustrierten durch. Sie interessierten mich nicht.
Nach und nach fiel meine Präsenz den Heimbewohnerinnen auf, die sich für ein Plauscherl in dem Raum niedergelassen hatten. Nach etwa zwanzig, dreißig Minuten sprach mich schließlich eine ältere Dame, die mich seit einiger Zeit ins Visier genommen hatte, an: »Warten Sie auf jemanden?«

Montag, 26. Januar 2009

Kommissarin 10 - Kapitel 3

Die neueren Werke trugen eine andere Handschrift als die früher abgegebenen Akten. Dennoch waren sie alle mit KB, also Kommissarin Breugel, unterzeichnet. Hatte sie eine Ghostwriterin? Wer würde sich denn bei Arbeiten, die ungelesen in einem Schrank landeten, dazu bereit erklären? Die einzige logische Erklärung schien, dass eine Mitarbeiterin, die im Gegensatz zur Kommissarin sprachlich begabt war, sie jetzt unterstützte. Oder hatte es früher eine Kollegin ausformuliert, und nun verfasste die Kommissarin die (besseren) Texte selbst? Das kam mir unglaubwürdig vor. Oder sie ließ die Texte extern erstellen, und dies leistete nun wer anderer?
Ich hatte nochmals nachgefragt. Was nicht gerade auf helle Begeisterung stieß. Alle, die Steiner, die Schmeißer, selbst das fröhliche Humpty-Dumpty-Frühstücksei hatten verhalten reagiert. KB war ein Thema, hatte ich gelernt (genauer gesagt, sollte ich endlich lernen), das besser nicht angeschnitten wurde. Ich hatte lediglich die Information bestätigt bekommen, dass die KB nur über eine einzige Mitarbeiterin verfügte, nämlich über eine Sekretärin. Ob diesen Posten im Laufe der sieben Jahre mehrere Personen besetzt hätten, konnten sie mir nicht beantworten. »Hat’s keine lang neben der Frau Tüchtig ausgehalten«, kuderte das Frühstücksei, wurde aber von der Schmeißer mit strengem Blick und einem verstohlenen Zeichen in Richtung der Steiner, die ein wenig abgewandt stand, gewarnt. Die Steiner hatte sich zu uns gedreht: Nein, entgegnete sie, denn die wenigen Male, in denen sie über die Jahre hinweg Kontakt mit dem Büro der KB gepflegt hatte, hatte sie (glaubte sie) am Telefon stets mit der gleichen Sekretärin gesprochen. Ich nahm mir vor, in der Personalabteilung nachzufragen, behielt aber diese Idee wohlweislich für mich.
Worin bestand das Geheimnis rund um die KB? Warum peinlich berührtes Schweigen, wenn man nur ihren Namen aussprach?
Vielleicht wussten meine beiden Freunde im Keller mehr? Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass sie gar nicht so abgeschnitten vom Tratsch lebten, wie ihre dezentrale Lage und ihre häufigen Abwesenheiten vermuten ließen. Sie hielten Kontakte zu ein paar treuen Gästen, die regelmäßig zu Besuch kamen und ihnen den erforderlichen Nachschub an Bier und Informationen lieferten.
»Sie haben mich eingeteilt, Akten von einer Kommissarin Breugel abzulegen. Berge sind das!« Adi und Otto nickten mitfühlend. »Oabeit is imma Oasch«, war zwar ihr Lebenscredo, aber mit einer solchen Hackn tat ich ihnen Leid. »Wisst ihr eigentlich, wer das ist, diese Kommissarin Breugel?«
Die beiden schüttelten bedauernd den Kopf. War ihr Informationsstand doch nicht so gut. »Is des ane von uns im Haus?« wollte Adi wissen.
Ich erzählte ihnen das wenige, was ich über die Breugel in Erfahrung gebracht hatte, und schloss: »Da scheint’s was gegeben zu haben. Alle, die ich frag’, drucksen herum.«
Nun waren meine Ex-Kollegen neugierig geworden. »Wir wer’n uns umhören«, versprach Adi, »und wenn ma was wissen, wer’n mas da sag’n, Burli.«
»Warum interessiert di de?« ging Otto der Sache nach.
Ich überlegte, ob ich mich auf den Kommentar beschränken sollte, dass mich die Geheimniskrämerei rund um die KB stutzig machte, oder ob ich mehr preisgeben sollte. »Na ja, die Akten von ihr, die alten sind ganz anders geschrieben als die neuen«, verriet ich schließlich.
Die Offenheit hätte ich mir sparen können, die beiden glotzten mich nur blöde wie zwei Kühe auf der Alm kurz vorm Wiederkäuen an. In diesen Sphären bewegten sie sich nun eben nicht. »Wie anders? Besser oder schlechter?« fragte Otto, der unter Beweis stellen wollte, dass ich durchaus solch abgehobenen Thesen mit ihm besprechen konnte. Adi rülpste und verdrehte die Augen; er hatte kein Interesse an solchen Kinkerlitzchen.
»Anders eben«, antwortete ich. »Eigentlich ist es jetzt interessanter zu lesen, aber ich glaube, sie hat sich früher mehr Mühe angetan.«
»Hot’s halt g’lernt, dass sich di Müh net auszoalt. Nun schreibt’s schene G’schichtn, des mocht ihr halt mehr Spaß«, mutmaßte Adi in einem Tonfall, der mehr als deutlich ausdrückte, dass er das Thema für beendet hielt.
Es brachte nichts, mit den Kumpeln die Schreibweise einer Kommissarin Breugel zu diskutieren. Dabei ging es nicht nur um den Stil, sondern auch um die Inhalte. Insbesonders bei den allerneuesten Texten. Seitdem die KB von ihrem Urlaub zurückgekommen war, zeichnete sie sich durch besonderen Fleiß aus. In manchen Wochen lieferte sie zwei, sogar drei fertig gestellte Akten ab. Manche schienen geradezu auf mich zugeschnitten. Ich musste aufpassen, keinen Verfolgungswahn zu entwickeln. Jedes Mal, wenn eine neue Akte der KB abgegeben wurde, wurde ich richtiggehend aufgeregt. Ich zwang mich nicht gleich hinzustürzen, sondern erst nach einiger Zeit, wenn die Kaffeetanten mit ihrer braunen Brühe, die immer langsamer und spärlicher durch den Filter floss, beschäftigt waren, hin zu schlendern und lässig von mir zu geben: »Dann werde ich die gleich mal bearbeiten.« Der Steiner fiel mein gesteigertes Interesse an den jüngsten KB-Akten zum Glück nicht auf; womöglich glaubte sie, auch meine Lebenserfüllung läge in einer korrekten Ablage.
Zu dumm, dass diese Berta Schmalbaum ausgerechnet jetzt verstorben war! Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ich, hätte ich mit ihr sprechen können, ein klareres Bild über die KB gewonnen. Vermutlich ein Irrglaube, die Alte wäre selbstbezogen und in der Vergangenheit verhaftet, dass nichts aus ihr raus zu holen gewesen wäre. Schade trotzdem!

Sonntag, 25. Januar 2009

Kommissarin 9 - Kapitel 3

Kapitel 3
»Geht’s da net guat, Burli«, meinte Adi direkt besorgt. »I hob’s ja glei gsogt, dass da di Gsö’schaft bei de Bürotussies net guat tuat.« Er hob sein Krügel, gefüllt mit Bier, das ich als Gastgeschenk mitgebracht hatte. »Prost, Burli! Loss di net untakrian.«
»Oba geh«, meinte der Otto, sein Kollege, und stieß mich mit dem Eckbogen freundlich-grob an. »Liebeskumma, hot er, da Klane. Woast nimma, dass er uns wegn an Madl verlossn hat?« Er tat, als würde er weinen, und lachte dabei über das ganze Gesicht. »Hat uns verloassn«, wiederholte er, »weg’an Weib!« Verständnislos schüttelte er den Kopf.
Ich hatte von den bedauerlichen Zahnbeschwerden meiner Kollegin, der Steiner, die deswegen erneut zum Arzt musste, profitiert. Wegen eines zu setzenden Implantats würde sie in nächster Zeit öfters Abwesenheiten verursachen, während derer ich mich auch verkrümmeln konnte. Ich hatte zwar Frau Schmeißer, die eigentlich für mich zuständig war, noch immer nicht davon überzeugen können, dass es wirklich keinen Sinn machte, wenn ich um acht Uhr (oder was es halt wurde) in der Früh antanzte, ich wäre zu der Zeit nicht einsatzbereit. (Was sie mit einer netten Einladung, eine Tasse Kaffee mit ihnen zu trinken, quittierte.) Dafür durfte ich mich, wenn die Steiner weg war, vertschüssen – vorausgesetzt, ich kam vor der Meisterin der Ablage zurück und lieferte Frau Schmeißer eine nicht allzu durchsichtige Erklärung für meinen (selbstverständlich dienstlichen) Weg.
Diesmal hatte ich sogar das Ziel meines »Dienstganges« wahrheitsgemäß genannt: Die Kopierstraße. Bei einigen alten KB-Akten wäre einiges schwer lesbar, hatte ich behauptet, da könnte mir eine hochauflösende Kopie weiterhelfen. Dass das »Papier« in dem überdimensionalen Sack so verdächtig klirrte, wurde zum Glück nicht kommentiert. Ich hoffte nur, das Frühstücksei, die Einzige des Kaffee-Trios, welche meiner Geschichte tatsächlich Glauben zu schenken schien, würde nicht irgendwann gegenüber der Steiner in aller Naivität ausplaudern, dass ich, in meinem Bemühen, die Akten entziffern zu können, die Kopierstraße aufgesucht hätte.
Nun saß ich also bei meinen Ex-Kollegen und ließ mich – mehr oder weniger ernst gemeint – von ihnen bedauern. Sie hatten mit ihrer Einschätzung durchaus Recht. Mir ging’s nicht so gut: die schwachsinnige Hackn und Sandra. Wegen ihr hatte ich mich in diese öde Archivabteilung versetzen lassen, und was hatte ich nun davon? Mit uns ging es nicht so wirklich voran. Na ja, ein paar Mal waren wir schon fort, und sie hatte mir auch immer wieder schöne Augen gemacht. Wahrscheinlich, wenn ich ordentlich ranging, könnte ich sie bekommen. Aber …
Ich hatte mich, fürchtete ich, in diese freche Gör mit ihren grünen Augen verschaut. Mich hatte es diesmal richtig erwischt. Ich wollte mehr, was Ernstes, was Tiefergehendes. Das würde sie nicht zulassen, fühlte ich, denn Sandra verhielt sich mir gegenüber nicht aufrichtig. Nicht nur, dass sie in Wahrheit zweiundzwanzig Jahre alt war (und nicht neunzehn, wie sie anfangs behauptet hatte) und dass sie gerne Geschichtln druckte und sich (gemeinsam mit ihren Freundinnen, die sie leider immer wieder mitzerrte) fürchterlich abhaute, wenn ich darauf reinfiel; nein, da war mehr. Es existierte ein versteckter Teil ihrer Persönlichkeit: irgendwas (oder vermutlich irgendwen) nahm sie sehr ernst, aber darüber sprach sie nicht. Mir verriet sie nichts, denn ich war nur ein Spielzeug für sie; ihrer Mutter sowieso nichts, doch vielleicht schwieg sie auch gegenüber ihren Freundinnen.
Dazu gehörte, dass sie an Mittwoch Abenden nie Zeit hatte. Zuerst hatte sie behauptet, sie hätte eine Vorlesung, aber als ich ahnungslos vorschlug sie doch abzuholen, hatte sie nervös reagiert. Schließlich hatte sie eingestanden, die Unwahrheit gesagt zu haben, und war mir patzig über den Mund gefahren, als ich es wagte nachzufragen. Eigen war auch, dass sie oft an Dienstagen und manchmal auch Montagen die Ausrede benutzte, sie hätte keine Zeit, weil sie eine Seminararbeit für die Uni fertigtstellen oder für eine Prüfung lernen müsste. Aber jene Prüfung, die sie einmal vorgab, hatte sie in Wirklichkeit drei Tage zuvor erfolgreich abgelegt. Hatte doch ihre Mutter stolz verkündet! Sandra selbst hatte dies auch mir bestätigt, als sie darauf ansprach. Nachdem ich sie der Lüge überführt hatte, weigerte sie sich eine Woche lang mich zu sehen.
Ja, Sandra bereitete mir Kopfzerbrechen, da hatte Otto schon Recht. Darüber hinaus setzten mir die KB-Akten zu. Da war was faul, spürte ich. Vor allem bei den neueren Schriftstücken ab dem Jahr 2001: Die wirkten, als wären sie von einer anderen Person verfasst. Ein völlig unterschiedlicher Stil, gut geschrieben und durchaus interessant (da musste ich der Steiner direkt Recht geben), manchmal sogar mit spitzfindigen Bemerkungen und tiefsinnigen Analysen, die eigentlich in einer Akte nichts zu suchen hatten. Was wiederum bewies, dass die Damen des Kaffee-Trios nie einen Blick auf die KB-Akten geworfen hatte. Schade um die Liebesmühe der Autorin. Obwohl … Vielleicht machte es ihr mehr Spaß, die mühsam aufgetriebenen Ergebnisse der Recherche stilvoll aufzubereiten, als brav und hölzern, wie sie es Ende der neunziger Jahre exerziert hatte.
Falls es überhaupt die gleiche Person war …

Kommissarin 8 - Zwischenkapitel

Akte II-1963.SOS 67-98752, Café Tatjana, 1220 Wien
Bewertung

Nach Prüfung der Akte komme ich zu dem Schluss, dass angesichts des geringen Sachwerts der – zeitweilig – entwendeten Ware der Vorfall nicht weiter verfolgt werden soll.
Am 4. April 1966 meldete Frau Ines Prospischill, Inhaberin des Cafés Tatjana in der Sand???gasse 3, 1220 Wien (Anmerkung von Kommissarin Breugel: Straßenbezeichnung in der Akte nicht identifizierbar, möglicherweise Sanddorngasse oder Sandefjordgasse) ihre Kaffeemaschine als gestohlen. Bei der Sachverhaltsaufnahme vor Ort entdeckten die Beamten die Kaffeemaschine an ihrer gewohnten Stelle. Frau Prospischill zeigte sich überrascht, bestand aber darauf, dass die Kaffeemaschine über Nacht entwendet worden wäre. Ein testweiser Einsatz des Geräts ergab dessen eingeschränkte Funktionalität: Die Brühe verließ nur tropfenweise den Filter; die Qualität der von ihr angebotenen Kaffeespezialität war laut Frau Prospischill nicht mehr gewährleistet.
Frau Ines Prospischill, Inhaberin des Cafés Tatjana, bestand auf einer Aufzeige: Ihre gut funktionierende Kaffeemaschine wäre von unbekannten Banditen über Nacht ausgetauscht worden.
Die Anzeige wurde am 5. April 1966 aufgenommen; der Sachverhalt nie weiter verfolgt. Die Akte wurde nie offiziell geschlossen.
Angesichts der vernachlässigbaren Sachsumme ersuche ich um Schließung der Akte II-1963.SOS 67-98752, Café Tatjana, 1220 Wien und um deren aktenmäßige Veranlassung. Dem Akt lag neben der Anzeige mit Sachverhaltsdarstellung auch ein Manuskript einer Erzählung des unbekannten Schriftstellers A.M. Mühlwasser bei, welche den Vorfall zum Inhalt hat. Es konnte nicht geklärt werden, ob einer der ermittelnden Beamten mit schriftstellerischen Ambitionen dieses Ereignis, in einem (Anmerkung von Kommissarin Breugel: stümperhaften) Versuch, sich literarisch zu betätigen, verarbeitet hatte oder ob die Kollegen im Rahmen der Untersuchung auf diese Erzählung gestoßen waren und sie als möglichen Erklärungsansatz berücksichtigt hatten.
Wien, 22. Oktober 2003 Kommissarin K. Breugel
Bei uns in der Au: Der Streit der Kaffeetanten (Erzählung)
Bei uns in der Au spielen sich immer wieder Streidarein und Scharmützl ab. I mein, wir verstehn uns alle sehr gut, so im Allgemeinen, aber ab und zu, da kracht’s halt. Manchmal laut, wie beim Feiawerk, und dann spielt’s Granada, und es blitzt und donnert, als hätt’s den letzten Tog gschlogn.
Besonders org ist des mit den Geschäftsleut, die hängn halt immer wieder mitanda.
Ich denk da an eine Episode, die sich grod erst bei uns in der Au abgespielt hat.
Wir hom ein paar Wirtsheisa, aber auch zwei Kaffeeheisa. Eigentlich hat es immer nur ans gebn. Solange ma zruck denken ka. Des von der Innerl Pschemysl, wie der glücklose Ottakar von Böhmen, nur daß ma den aber mit an Haschek gschriebm ham. Aber heute sind ma alle Österreicha, also ka Hasckek wie in da Monarchie, wo die Behm a alle Österreicha woan. Des Kaffeehaus von da Pschemysl, an die ihr eich vielleicht noch von der anderen Geschicht’ erinnern könnt. Die Innerl, die uns alle zu ihrem vierzigsten Geburtstag einglodn hat (wer woas, ob des net schoa der funfzigste war) und der des mit der Tortn passiert is. Ihr erinnert’s euch, sie hat, wie a Hochzeittortn, ihre Geburtstagstortn gehabt, mit vier Etagen. Sie wollt’s net anschneiden, ums Verrecken net, sie hot uns mit Brathendl gefuttert und mit an Eis aus ana neumodischen Eismaschin, aber nix mit da Tortn. Wir ham gedacht, sie wü se die Tortn aufbeholtn, als Erinnerung, wei heiraten wü di eh kaner mehr, aber des woars net. Es wor haas, und die Wespen san um die Tortn geschwirrt, und plötzlich is a Teil von da Tortn einfach runtagrutscht. Des warn nämli kane vier Tortn, die Pschemysl hat nur a Tortn gmocht, die klane für obn, und für die drei anderen hat’s vier runde Karton gnumma und die mit einer Creme bestrichen. Als die Innerl das Malheur mit den Tortn gsehen hat, hat’s zuerst noch versucht, die Tortn und ihre Reputation zu retten und wollt’ des Stück wieder am Karton festpicken, aber des hat holt net gholtn, und da is sie hysterisch gwordn. Hot geheult und gschrien, und wir alle hom sie beruhigt, und gesagt, des ist ja net schlimm, denn im Grunde hom ja alle de Innerl Pschemysl gern gehabt.
Aber des mit der Tortn wollt ich eigentli’ net erzähln, weil die Gschicht kennt’s eh alle in da Au. Sondern wi a zweits Kaffeehaus bei uns aufg’mocht hat. Des hot die Innerl ziemli’ unter Druck gbrocht. Weil natürli hom wir uns des neue Kaffeehaus angeschaut, des von der Edda Meier. Und des wor wirklich a schens Kaffeehaus. So richtig mit runde Tisch und große Fauteuils, und sogar Zeitungen sind rumg’legn. Bei der Innerl hat ma si nur die Zeitung von ihr ausborgn kenna. Und Mö’speisn hot’s bei der Edda gegeben. Da hot die Innerl mit ihrem Kiosk mit die poar Sesseln draußn net mitholdn kenna. Trotzdem, wir san a weiter ab und zu zur Innerl gangen, denn wir hom se gern ghobt, und sie hat auch an Spaß verstanden. Die Edda hat imma so komisch g’schaut bei unsere Witze.
Wir san amol zur Edda und amol zur Innerl gegangen, um zu hören, wie sie übereinander geschimpft hom. Des wor ja lustig. Die zwei hom sie net ausstehn kenna. Für uns wor des a Gaudi.
Einmal hot’s kan Kaffee gebn bei der Edda. Ihr Maschin war kaputt. Verstopft. Da hat sie doch glatt behauptet, die Innerl hätte wen geschickt, der ihr die Kaffeemaschine ruiniert hätte. Die Innerl hat getobt, als sie des g’hert hat. Sie wollt schon zur Edda gehn und a Theata machn, was normalerweise imma sehr lustig für uns woar, aber da war sie so wütend und is die ganze Zeit nur mehr mit an Messa in da Hand rumg’laufn, also ham ma gesagt: Innerl, beruhig di, reg’ di net auf, bleib da! Na ja, sie is net mit dem Messa in da Hand zur Edda rüberg’laufn. Aber gschimpft hat sie die nächsten Tag, daß des a Freud woar. Die Edda hat dann a neiche Maschine gekauft, diesmal das gleiche Fabrikat wie bei der Innerl. Trotzdem hat sie behauptet, ihr Kaffee wär viel besser als der von der Innerl, die in ana Bruchbuden a Café betreibt. Nur dummaweise woar die neiche Maschin’ nach einiger Zeit kaputt. Da Kaffee ist net g’scheit durchg’runna, es woar oals verstopft.
Die Innerl hat si’ g’freit. Aber net loang. Da war plötzli’ ihre Kaffeemaschine weg. Über Nacht. A Einbruch? Net wirklich. Es hat ja jeda gewusst, daß sie den Schlüssel unterm Blumentopf versteckt hot. Sie hot behauptet, sie hätt’ abg’sperrt, aber in der Früh woar offen, der Schlüssel is gesteckt – und die Kaffeemaschine war weg. Natürlich hat sie der Edda vorgeworfn, daß die dahinter steckt. Den Kieberer hat’s gsagt, die sollen bei der Edda suchen. Aber des wollten di net. Wie schaut denn das aus?
Am nächsten Tag is die Innerl ganz aufg’löst gewesen. Die Kaffeemaschine woar wieder da, an ihrem alten Platz. Wahrscheinlich hat sie die bei sich selbst versteckt und hat das vom Diebstahl nur behauptet, um der Edda eins auszuwischen. An dem Tag warn ja wirklich alle von der Au bei ihr, selbst die, welche sich sonst net blicken hom lassen. Na, haben wir uns g’dacht, ist ja wurscht, wird wieda so a Linke von der Innerl sein, wia bei der Tortn, Hauptsache, es gibt wieda an Kaffee.
Des woar oba a Füh’einschätzung. Die Maschin hat net gescheit funktioniert. Nur ganz langsam ist da Kaffee durchg‘runna, Tropfen für Tropfen. Wie bei der Edda in letzta Zeit. Wir ham der Innerl nicht widersprochen, als sie der Edda unterstellt hot, sie hätt’ die Maschine ausgetauscht. Ein poar von uns sind nachher zur Edda gegangen, auf an Kaffee. Und siehe da: Bei ihr is da Kaffee durchgeronnen, so a Zufall! Wir ham des net der Innerl gsagt, aba irgendwie hat sie’s doch erfoarn. Da woar wos los. Zur Kieberei ist die Innerl glaufn und hat sich beschwert. Und weil sie so lästig woar, sind die Kieberer nach ein paar Tagen doch zur Edda gegangen, zum Lokalaugenschein. Die Innerl ist mitg‘kuma, aber die hom zwei starke Männer festholtn müssen, sonst hätt’s der Edda die Augn ausgekratzt.
Die Edda woar aba ganz ruhig und hot gsagt, des is a Unterstellung. Dann hot sie ihre Maschine vorgeführt: Die hat nu’ a nimma richtig funktioniert. Die Edda hat sich aufg’budelt: Und sag ich jetzt, die Pschemysl hätt’ mei’ gute Maschin gegen ihre ausgetauscht? Der Innerl ist alles runterg‘foalln und, als die Kieberei zu ihr gegangen ist und ihre Maschine angeschaut hat, woar sie, glaube ich, ganz erleichtert, daß ihre Maschine auch net gescheit gegangen ist.
Nach einiger Zeit hat sich alles wieder beruhigt. Die Edda hat sich so eine neumodische, große Espressomaschine gekauft, und die Innerl hat ihre alte, kaputte Kaffeemaschine behalten. Aba wir sind trotzdem weiter zur Innerl gegangen, denn sie hat doch an Spaß verstanden.
Anton Martin Mühlwasser

Samstag, 24. Januar 2009

Kommissarin 7 - Kapitel 2

Kommissarin Breugel wäre eine sehr tüchtige, effiziente Ermittlerin, hätte früher in der Mordkommission gearbeitet, dann beim Betrugsdezernat – hier unterbrach sich meine Gesprächspartnerin unvermittelt und blickte betroffen zu Boden –, bis vor etwa sieben Jahren die »Abteilung für die Aufklärung ungelöster Fälle« gegründet und der Kommissarin die Leitung übertragen worden war. Wie groß denn die Abteilung wäre? Na ja, Frau Ablage druckste herum, von wegen die Polizei hätte kein Geld, etcetera, etcetera, und wenn so was Einzigartiges in Europa, also gut, die Abteilung wäre eher bescheiden ausgestattet und bestünde ausschließlich aus deren Leiterin, der Kommissarin Breugel. Eine Sekretärin gäbe es auch, Teilzeit. Außerdem war, erfuhr ich, die Abteilung nicht in dem Polizeigebäude untergebracht.
Sie hatte mich neugierig gemacht. Das roch ja nur so nach einer schiefen Geschichte, als hätten sie da wen loswerden wollen, wegloben oder so. Wahrscheinlich würde mir die Steiner nicht mehr verraten, daher schwieg ich und beschloss, Augen und Ohren offen zu halten und an gegebener Stelle Fragen zu stellen.
Dass die Kommissarin Breugel gleich der Steiner ein Arbeitstier war, erkannte ich in Kürze, als ich mir die ersten Akten, im Jahr 1996 (nach)bearbeitet und übermittelt, zu Gemüte führte (diese waren noch ganz gut auszumachen, ganz links im Kasten – später wurde alles nur mehr hineingeworfen). Sie musste wie eine Irre geschuftet haben. Sie hatte sich in die alten (veralteten, würde ich meinen) Fälle vertieft, hatte bislang unbekannte Zeugen ausgeforscht (zum Teil leider mit Wohnortadresse Friedhof – doch selbst das wurde präzise angeführt) und mit noch lebenden Gespräche geführt, manchmal alte (Bau- oder Flächenwidmungs-)Pläne ausgehoben, unzählige Akten von anderen Dienststellen angefordert (was das für mich bedeutete, war auch klar!), Orte des Verbrechens persönlich aufgesucht, Einsicht in alte Geschäftsberichte genommen, diverse Hypothesen entwickelt, bevor sie endlich zu ihrer Bewertung kam.
Nicht nur, dass sie jeden Fall ausführlich behandelte, sie hatte auch unglaublich viele Akten in vergleichsweise kurzer Zeit abgearbeitet. Wollte sie ihre Chefs überzeugen, wie tüchtig sie war? Oder wollte sie sich selbst ihre Effizienz beweisen?
Nach vier, fünf Akten reichte es mir. Die Bewertungen wären eigentlich ganz interessant zu lesen, wären sie nicht so brav, unter Berücksichtigung sämtlicher Eventualitäten, formuliert worden. Aber diese dämliche Ablage, die Auflistung sämtlicher Akten! Ich verfluchte die Steiner und überlegte, ob ich die Liste einfach unter den Tisch fallen lassen konnte. Leider kam sie regelmäßig vorbei, um sich zu erkundigen, wie es mir bei der Arbeit ging. Ich wusste Bescheid: In Wirklichkeit wollte sie mich kontrollieren. Sie stand hinter mir, griff ungefragt nach Formularen, die ich ausgefüllt hatte, las diese mit zusammengepressten Lippen durch und strich mit einem Rotstift Tippfehler an. So was von zwänglerisch!
Ich konnte so nicht weitermachen. Daher entschied ich mich, meine Vorgangsweise zu ändern. Ich wollte mir zunächst einen Überblick verschaffen, wieviel Arbeit mich erwartete. Ich nutzte die Gunst des Augenblicks (beziehungsweise der nächsten zwei, drei Stunden, in denen Feldwebel Steiner bei einem Arzt weilte), schob in dem Sonder-Archiv das sich weit erstreckende Anden-Gebirge an zu bearbeitenden Akten enger zusammen, so dass es mehr an den Himalaya erinnerte, und räumte den Kasten aus. Ich legte die Akten am Boden auf, gestapelt nach dem Jahr der Bearbeitung. 1996 war ein Wahnsinn, obwohl die ersten bewerteten Fälle erst nach dem Sommer eingetroffen waren. 1997 war um nichts besser. Für diese beiden Jahre benötigte ich mehrere Stapel am Boden. Ich dachte schon daran aufzugeben, als mich ein Umstand stutzig machte. Ich hatte bereits ein gutes Drittel des Kastens geleert und ausschließlich Akten zu den Jahren ´96, ´97 und ein wenig zu ´98 identifiziert. In der Hoffnung, dass der Arbeitseifer der Kommissarin im Laufe der Zeit nachgelassen hatte, aktivierte ich den Restbestand meiner Motivation und fuhr fort.
Es zahlte sich aus. Als ich endlich, nach getaner Arbeit, mit wundem Rücken, vor meinem Werk stand, zeigte sich ein aufschlussreiches Muster. Der Kommissarin war tatsächlich die Luft ausgegangen. Nach dem Boom der ersten drei Jahre (wobei, wie eine detailliertere Analyse zeigte, sie zwischen September und Dezember 1998 keinen einzigen Fall abgeschlossen hatte) wurden im Jahr 1999 lediglich drei Akten übermittelt und im Jahr darauf immerhin sieben. Waren die etwa woanders hingeschickt worden, fragte ich mich. Diese Überlegung würde ich sicher nicht laut äußern, denn für mich war diese Entwicklung gut. Außerdem bewies mir ein Blick in die Akten jener Jahre, dass die Kommissarin nicht mehr so recht bei der Sache war. Extrem kurze Bewertungen (»Nach Prüfung der Informationen komme ich zu dem Schluss, dass dieser Fall als unaufklärbar abgeschlossen werden muss.«), keine zusätzlichen Dokumente wie Protokolle oder Lagepläne. Nichts. Es schien, als hätte die Kommissarin darauf verzichtet Ermittlungen durchzuführen.
Ab 2001 nahm die Anzahl der übermittelten Akten wieder zu, Tendenz steigend. Die Bewertungen wurden ausführlicher, und ich erinnere mich, beim Überfliegen gedacht zu haben, die wirkten auf mich mehr wie ein literarischer Text als Akten der öffentlichen Verwaltung. Ich ertappte mich dabei in eine Bewertung vertieft zu sein, als würde ich einen Krimi lesen. Deshalb beschloss ich, zunächst die ab 2001 übermittelten Fälle zu bearbeiten. Erstens war dies eine überschaubare Zahl, und zweitens schienen die interessanter. Ich räumte die Akten, welche im vorangegangenen Jahrhundert von der Kommissarin Breugel geprüft worden waren, wieder in den Kasten. Würde mich die Steiner zu den von mir gebildteten Stapeln am Boden befragen, würde ich ihr mit freundlichem Lächeln erklären, ich hätte mir ein paar Akten herausgelegt, die ich als nächstes erfassen wollte. Ich musste ihr ja nicht meine Strategie auf die Nase binden (sollte sie sich nach meinem Abgang mit der öden Altlast herumschlagen!), und im Übrigen hatte mir niemand angeschaftt, chronologisch vorzugehen.
In dieser Entscheidung sah ich mich am nächsten Tag bestärkt, als, kaum dass ich am Morgen meinen Arbeitsplatz erreicht hatte (sie hatten mir einen schmalen Computertisch mit PC in eine Ecke gestellt), ein Bürobote erschien und einen braunen Umschlag der Hauspost abgab. Frau Schmeißer, ein wenig verärgert, dass sie aus der Zeremonie der Kaffeezubereitung heraus gerissen wurde, warf einen desinteressierten Blick darauf. »Wieder einmal ein lieber Gruß von unserer hochgeschätzten Ka-Be«, stellte sie mit einem, wie mir schien, leicht verächtlichen Unterton fest.
»Sie hat doch erst vor ein paar Tagen was geschickt«, wunderte sich das Frühstücksei, »so fleißig.« Sie kuderte.
Die dritte im Bunde traf einen praktischen Entschluss. »Das können wir dem René geben. Hast gleich was zu tun, in der Früh.«
Ich ergriff den Umschlag und sagte in Richtung von Frau Steiner, die natürlich (wie könnte es anders sein!) in die Arbeit vertieft war: »Ich kann ja diese Akte zwischendurch einschieben, es muss nicht chronologisch sein.«
An ihrer Stelle antwortete Frau Schmeißer: »Selbstverständlich. Wichtig ist nur, dass es schlussendlich chronologisch abgelegt ist, aber in welcher Reihenfolge es bearbeitet wird, ist egal. Hauptsache, ein Teil wird mal abgearbeitet.« Das klang beinahe, als glaubte sie ohnehin nicht daran, dass die Ablage dieser alten Akten je abgeschlossen werden könnte.
Noch ein wenig verschlafen öffnete ich die Akte »Stanislav Gomm CoKG«. Sie war ziemlich dick. Das meiste davon alte Protokolle, Schriftstücke. Die Bewertung war knapp ausgefallen; eine Beilage, ein Protokoll mit einer aufgetriebenen Zeugin von anno dazumals, war beigefügt.
Nachdenklich beobachtete ich die drei Kaffeetanten. Meine Gedanken schweiften ab. Nachdem ich das Gespräch, das die Kommissarin kürzlich mit Berta Schmalbaum geführt hatte, gelesen hatte, fühlte ich mich unsicher, ertappt. Was diesem Reinhard beziehungsweise Reni (diese Namensähnlichkeit mit René machte mich stutzig) passiert war, glich so sehr meiner eigenen Geschichte mit Sandra. Was für ein erstaunlicher Zufall!

Freitag, 23. Januar 2009

Komissarin 6 - Kapitel 2

Ihre Kolleginnen hatten sich soeben über einen eingelangten Aktenstoß amüsiert: »Na, fleißig, unsere KB. Hat wieder ein paar Fälle gelöst!«
Frau Steiner, die in ihre Arbeit vertieft schien, hatte aufgesehen und gefragt: »Wären die Breugel-Akten nichts für unseren Lehrling?« Ich war zusammengezuckt. Lehrling! So tief war ich gesunken!
»Praktikant«, hatte Frau Schmeißer korrigiert. »Die KB-Akten für unseren René?« Sie überlegte, ihre beiden Mitstreiterinnen beim Kaffeekränzchen schwiegen. Frau Schmeißer war diejenige des Trios, die entschied. Statt zu einem Entschluss rang sie sich zu einer Frage durch: »Was soll er denn machen?«
»Das ist doch eine Schande, dass da nichts weiter geht«, hatte Frau Steiner losgepoltert. Die drei Kaffeedamen hatten die Köpfe gesenkt. Ein wenig schuldbewusst, schien mir. »Da haben wir eine eigene Abteilung für ungelöste Fälle, einzigartig in Europa, was sage ich, einzigartig auf der Welt, mit einer engagierten Frau, die sich bemüht, die zwanzig, dreißig Jahre alten Fälle zu lösen. Und wir schauen uns gar nicht an, wie sie diese aufgeklärt…«
»Wer behauptet, dass sie die Fälle immer lösen kann?« unterbrach Frau Kurz, die dritte in der Kaffeerunde.
»Aber nicht einmal das prüfen wir«, empörte sich Frau Steiner. »Wir wissen überhaupt nicht, wie viele Fälle Kommissarin Breugel wirklich aufklären konnte. Außerdem ist das nicht ihr Job. Kommissarin Breugel hat die Aufgabe, alte, ungelöste – oder sagen wir besser – offene Fälle zu bearbeiten, sie zu bewerten und zu einem Abschluss zu bringen.« Ihre Stimme klang plötzlich sehr förmlich. »Das heißt nicht unbedingt lösen. Oft können die Zeugen nicht gefunden werden, sind verstorben … In einem Fall genügt die Feststellung, dass der Fall wegen tempora passata, wegen der verstrichenen Zeit, nicht weiter bearbeitet werden kann.«
Ich hatte ungläubig das Gespräch verfolgt. »Alte Fälle?« erkundigte ich mich verwundert. Das hörte sich nach verstaubten (passte zum Archiv!) Geschichten an.
»Verjährte Fälle«, kicherte das Frühstücksei und schien wie die ihr namensgebende Figur in »Alice im Wunderland« zu hüpfen.
Sie erntete einen bösen Blick von Frau Steiner. »Fälle, wo keiner weitergemacht hat. Unterbrochen, weil was anderes dazwischen kam. Die Akte unvollständig, ohne Abschlussbericht, Protokolle fehlen, müssen erst von anderen Dienststellen eingeholt werden und so weiter. Es ist keine Ordnung drin.« Das war es, was die Steiner störte, dachte ich. »Das gehört aufgearbeitet. Nicht unbedingt die Fälle gelöst, aber formal muss es seine Richtigkeit haben. Damit wir die Akte ablegen können.« Erneut ein strenger, verweisender Blick in Richtung Meier, der ein Kichern entschlüpft war. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Frau Steiners Vorliebe, um nicht zu sagen, Wahn für eine korrekte Ablage war allseits bekannt. Hätte ich nicht fassungslos dem Gespräch gelauscht, wäre ich wahrscheinlich auch in unbändiges Lachen ausgebrochen.
Alexandra Steiner fuhr unberührt fort: »Da übernimmt und erledigt Kommissarin Breugel die Arbeit – und was machen wir? Schmeißen die Unterlagen ungeschaut wieder ins Archiv. Statt uns die Zeit zu nehmen und sie aktenmäßig zu erfassen.« Sie schüttelte bedauernd, nahezu entsetzt den Kopf. »Aber ich schaffe es nicht. Wenn wir das laufend gemacht hätten, wäre das eine Viertel-, halbe Stunde pro Tag gewesen. So ist es in den letzten sechs, sieben Jahren angewachsen.« Eine Viertel-, halbe Stunde pro Tag, überlegte ich, also realistisch eine Stunde für jemanden, der nicht die steinerische Effizienz besaß. Wieviel Zeit verbrachten ihre Kolleginnen täglich rund um die Kaffeemaschine?
Meine Gedanken waren bei den Worten »Archiv« und »erfassen« hängen geblieben. »Muss das elektronisch eingegeben werden?« fragte ich nach.
»Ja«, sagte Frau Schmeißer, die es an der Zeit fand, wieder einmal auf ihre Zuständigkeit für mich zu pochen. Nur einen Moment später kam ein klares »Nein« seitens der Steiner.
Frau Schmeißer zog sich zurück. »Na, Alexandra, du machst das schon mit dem Praktikanten.« Lächelnd wandte sie sich an ihre beiden Treuen: »Wie wär’s jetzt mit einem Kaffeetscherl nach all der Aufregung?« Auf deren zustimmendes Nicken wandte sich das Trio ihrer Lieblingsbeschäftigung zu und bot uns (der Steiner und mir) den Rücken.
Mir wurde mittlerweile erklärt, dass langfristig eine elektronische Eingabe geplant wäre, aber die Entscheidung darüber seit Jahren ausstünde. Es gäbe da einen Auslegungskonflikt, ob dies unter den Milleniumserlass fiele, zwischen dem Büro des Präsidenten und … Da unterbrach sich die Steiner, wollte mir nicht mehr verraten.
Sie zeigte mir ein Formular, das für jeden Akt anzulegen wäre. Darin sollten die Informationen zu dem Verbrechen (Name des/der Opfer, Art, Zeitpunkt und Ort der Straftat), dem Stand der damaligen Ermittlungen sowie die Bewertung durch Kommissarin Breugel eingetragen werden.
»Das muss ich aber nicht mit der Hand ausfüllen?« erkundigte ich mich vorsorglich. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Akten sich in den sieben Jahren angesammelt hatten. Hatte diese Kommissarin Breugel die Effizienz einer Steiner (dann, wehe mir!), oder durfte ich mich auf ein Arbeitstempo wie bei den Kaffeetanten einstellen? Selbst in einem solchen Fall: sieben Jahre sind eine lange Zeit!
Frau Steiner zeigte sich unerbittlich. Die elektronische Ablage wäre noch nicht beschlossen, daher müsste ich das Formular ausfüllen. Selbstverständlich mit der Hand.
Ich wehrte mich vorsorglich gegen den Arbeitsaufwand. »Ich kann doch das Formular im PC nachbauen«, schlug ich vor, »und fülle es elektronisch aus. Das drucke ich aus und lege es ordnungsgemäß ab.« Ich hoffte, mit diesen Schlüsselworten die ablagefanatische Kollegin zu überzeugen. »Jeder kann die Schrift gut lesen, viel besser, als wenn ich mit meiner Klaue schreibe.« Das war allerdings kein wirkungsvolles Argument, hatte ich bereits in wenigen Tage gelernt, denn es musste nur richtig abgelegt sein, ordentlich ausschauen – aber ob es lesbar, geschweige denn verständlich wäre, stand auf einem anderen Blatt. Ich fügte daher hinzu: »Außerdem haben Sie die Informationen auf diese Weise bereits im Computer. Falls die elektronische Erfassung kommen sollte, brauchen Sie die Daten nur zu überspielen.« Ob das Format passen würde, wagte ich zwar zu bezweifeln, da ich mit einem simplen Textverarbeitungsprogramm zu arbeiten plante, aber mich um die Zukunft der polizeilichen Archivarbeit zu sorgen, war wirklich nicht mein Bier (Kaffee wäre in dem Kontext das passendere Wort).
Alexandra Steiner vertrat stur ihren Standpunkt: »Noch ist die elektronische Erfassung nicht beschlossen, also dürfen die Daten nicht im PC erfasst werden.«
Ich wollte gerade darauf hinweisen, dass sämtliche Schriftstücke, Protokolle und so weiter am PC geschrieben und somit elektronisch erfasst wären, als sich plötzlich Frau Schmeißer umdrehte und bestimmte: »Natürlich soll der René das so machen, wie er vorschlägt. Wir werden nachher nicht nochmals alles eingeben.« Wollte die Schmeißer unter Beweis stellen, dass immer noch sie die Chefin der vier Damen vom Archiv war? Vielleicht hatte sie auch mit Schrecken an die Zeit in ferner Zukunft gedacht, wenn die elektronische Erfassung der »neu bewerteten« verjährten Fälle angeordnet würde, Alexandra Steiner längst im wohl verdienten Ruhestand wäre und sie, Schmeißer, sich ohne ihr Arbeitstier mit dem Problem herumschlagen müsste.
Frau Steiner hatte sich schmollend gefügt und angeboten, mich am Nachmittag (»Ich muss vorher noch ein paar dringende Aufgaben erledigen.«) in die Bearbeitung der Breugel-Akten einzuführen.
Ich hatte die Weiten des mir bekannten Archivs gefürchtet, aber Frau Steiner führte mich in einen Nebenraum der Aktenfluchten, durch eine unauffällige Tür getrennt. Der Raum selbst war nicht übermäßig groß, maximal zwanzig Quadratmeter. Es reichte. Auf dem Boden stapelten sich Berge von Akten, an einigen Stellen – wo die Stöße umgefallen waren – ein richtiggehendes Gebirge, dessen Kamm entlang meine Augen entsetzt eine Höhenwanderung absolvierten. »Das kann doch nicht ihr Ernst sein!« dachte ich fassungslos. Zu meinem Glück erfuhr ich, dass dies alles alte Fälle waren, die erst von der Kommissarin Breugel zu bearbeiten wären. Da aber öffnete Frau Steiner einen wuchtigen Kasten, zum Bersten gefüllt. »Das sind die bewerteten Akten, bereit zur Ablage. Das ist Ihr Job.«
»Da drin sind sie eh schon abgelegt.« Zaghafter Widerspruch meinerseits.
Frau Steiner lachte, als hätte ich einen guten Witz erzählt. Mit ernster, fast ein wenig enttäuschter Miene (dass ich noch immer nicht die Bedeutung der Ablage erkannt hatte) wies sie mich darauf hin, dass die Akten zwar in den Kasten gelegt, aber nicht abgelegt wären. Ich wandte mich dezent ab, um vor der so bemühten Mitarbeiterin der polizeilichen Verwaltung mein Grinsen zu verbergen. Meine Aufgabe bestände darin, wurde ich aufgeklärt, die Akten einzeln herauszunehmen – sie abzustauben, warf ich spöttisch ein, was Frau Steiner allerdings als einen konstruktiven Vorschlag wertete und gleich in die Akten-SOP aufnahm –, sie zu »prüfen« (also durchzulesen) und in einem eigenen Ordner die Bewertung der Kommissarin Breugel sowie die von ihr im Laufe der Recherche erstellten und neu aufgenommenen Schriftstücke abzulegen. Die alten, ursprünglichen Unterlagen, die derzeit noch einen Teil der Gesamtakte bildeten, sollte ich entweder in den Weiten des übrigen Archivs einordnen oder, falls sie anderen Dienstposten, etwa der Gendarmarie (die es damals noch gab), gehörten, diesen zu deren ordnungsmäßiger Ablage übermitteln.
»Die wearn a Freid hoam, wenn’s des kriegn«, rutschte mir heraus.
Frau Steiner entging die Spitze. »So können die ihre Archive der fünfziger und sechziger Jahre abschließen«, antwortete sie völlig ungerührt.
Auf diese Weise, wandte ich ein, ahnend, dass das Damoklesschwert nicht an mir vorüberginge, würde ja erst wieder die Akte in lauter Einzelteile aufgedröselt. Auch darauf wusste die Meisterin der Ablage eine Antwort: Der von der Kommissarin bewerteten Akte sollte ein Blatt beigelegt werden, auf dem sämtliche Beilagen (mit Aktenzahl, falls vorhanden, versteht sich) sowie deren »Verwahrungsort« aufgelistet wären.
»Das ist aber ein enormer Aufwand«, wagte ich einen letzten Versuch, diese absolut hirnvertrottelte Arbeit abzuwenden. Keine Chance. Ich durfte mir Zeit lassen (also konnte ich wenigstens ein, zwei Stunden in die Kantine abhauen und behaupten, ich hätte in diesem Sonderarchiv gewerkt), aber ich sollte die Aufgabe ordentlich erledigen, wurde mir auf den Weg mitgegeben.
Wahrscheinlich hatte selbst die unerschütterliche Alexandra Steiner mitbekommen, dass sich meine Begeisterung über die neue Verantwortung, die sie mir anvertraut hatte, äußerst in Grenzen hielt. »Sie werden sehen, die Bewertungen von Kommissarin Breugel sind spannend zu lesen«, versprach sie, um mich aufzumuntern.
Das aus dem Mund einer Beamtin zu hören, deren »Leidenschaft« der Ablage galt, baute mich nicht sonderlich auf. Um die Arbeit ein wenig hinauszuzögern, erkundigte ich mich: »Wo sitzt eigentlich diese Kommissarin Breugel?«
Ich bildete mir ein, ein längeres Zögern wahrgenommen zu haben, bevor Frau Steiner Auskunft gab.

Donnerstag, 22. Januar 2009

Kommissarin 5 - Kapitel 2

Kapitel 2
Ich sah nachdenklich von der Akte auf und überlegte. Frau Schmeißer war wieder einmal mit der Kaffeemaschine beschäftigt; mit Interesse studierte sie, wie die trübe Brühe zäh hinunter tropfte. Ich beobachtete die Kaffeezeremonien mit Skepsis. Denn ich befürchtete, dass die Damen mit dieser starken Benutzung bald ein weiteres Gerät verschleißen würden. Und dann wieder ihre Hoffnung auf handwerklichen Kenntnissen setzten. Nur leider kannte ich niemanden mehr, der eine solche Kaffeemaschine zu Hause stehen hatte.
Hoffentlich hatte Sandra ihrer Mutter nicht gesteckt, wie ich die Kaffeemaschine »repariert« hatte, schoss es mir entsetzt durch den Kopf. Sandra hatte bei ihrem Besuch im Büro lässig fallengelassen, welche ihre Lieblingslokale wären, an welchem Abend sie wo wäre. Diesmal hatte sie sogar die Wahrheit gesprochen, und als ich »zufällig« ihren Spuren folgte, traf ich sie in einem Lokal an. Der Abend war lang geworden, ich hatte viel geredet, um sie zu beeindrucken – und da hatte ich dummerweise mit der Geschichte angegeben.
Der Kaffee war durchgeronnen. »Na, endlich«, seufzte Frau Schmeißer, als hätte sie es nicht mehr erwarten können. Sie füllte den Kaffee in drei Tassen, reichte je eine an das »Frühstücksei«, das während der Zubereitung die ganze Zeit neben ihr gestanden war und die Maschine fixiert hatte, und an die dritte im (Kaffee-)Bunde, die einen bösen Blick zu ihrem Telefon warf, das sich erdreiste, genau in dem Moment zu läuten. »Müssen die gerade jetzt stören«, steckte sie ihre ganze Energie in ein Geschimpfe anstatt einfach abzuheben (wie sie es beim Handy, wenn ihr Mann oder ihre Schwester anriefen, auch mehrmals pro Tag tat). »Nie hat man seinen Frieden!«
Na ja, das stimmte nicht ganz. Obwohl sie ihre Arbeit als »fürchterlich stressig« darstellten, fand ich die Tätigkeit der drei Damen, die sich gerade den Kaffee zu Gemüte führten (das würde – wusste ich aus Erfahrung – mindestens eine halbe Stunde dauern) kaum fordernder als jene ihrer Kollegen in der Kopierstraße. Sobald es ein wenig anspruchsvoller wurde, werteten das die Beamtinnen als »außerhalb meiner Kompetenz« – und die Akte landete auf dem Steinerschen Tisch.
Alexandra Steiner war die Einzige in dem Zimmer, die tatsächlich intensiv arbeitete. Sie nahm auch nie an den Kaffeerunden teil (in der Früh erschien sie mit einem Plastikbecher vom Kaffeeautomaten in der Hand, um Zeit zu sparen), sondern hackelte, unter konsequenter Einhaltung einer Mittagspause in der Kantine von genau fünfzehn Minuten, von einer Uhrzeit am Morgen, zu der ich mich noch weit vom Büro entfernt befand, bis am frühen Abend.
Sie war es auch, die Arbeit für mich »gefunden« hatte.

Montag, 12. Januar 2009

Kommissarin 4 - Zwischenkapitel

Akte III-1956.AKM 35.789-13255, Stanislav Gomm CoKG
Bewertung

Nach eingehender Prüfung der Akte komme ich zu dem gleichen Schluss wie Kommissar Wiesel am 11. November 1956, dass hierbei kein Gewaltverbrechen vorliegt.
Am 4. April 1956 wurde in dem Bach hinter der Kfz-Werkstätte Stanislav Gomm CoKG, Wien Simmering, ein Arbeitsoverall, der trotz vermutlich mehrtägiger Lagerung im Gewässer Ölflecken aufwies, gefunden. Eine Leiche konnte nicht entdeckt werden. Allerdings war seit 2. April 1956 ein junger Wanderarbeiter namens Reinhard (Nachname niemandem bekannt), der in der Woche davor Aushilfsarbeiten in der Werkstätte durchgeführt hatte, abgängig.
Ich teile die Meinung des mittlerweile verstorbenen Kommissars Wiesel, dass Reinhard weitergezogen war. Für das plötzliche Erscheinen und Verschwinden des jungen Mannes und sein bewusstes Zurücklassen der damals intakten und neuwertigen Arbeitskleidung mag vielleicht die Hypothese von Frau Berta Schmalbaum, derzeitige Bewohnerin des Geriatriezentrums am Wienerberg, herangezogen werden, die im Rahmen der aktuellen Recherchen von mir aufgetrieben und befragt wurde (beiliegendes Protokoll siehe Anhang 1).
Ich ersuche daher um Schließung der Akte III-1956.AKM 35.789-13255, Stanislav Gomm CoKG und um deren aktenmäßige Veranlassung.
Wien, 17. Oktober 2003 Kommissarin K. Breugel
Anhang 1
Gespräch mit Berta Schmalbaum (BS), Bewohnerin des Geriatriezentrums am Wienerberg, mit Kommissarin Breugel (KB), 9. Oktober 2003 – Wortprotokoll, relevanter Ausschnitt
BS: Ach so, die Gschicht mi’n Reni manans!
KB: Reni? Den Wanderarbeiter Reinhard, dessen Nachnamen man nicht kennt …
BS: Des is fia uns da Reni gwesn! Der wor oba net lang do.
KB: Sie können sich immer noch gut erinnern, nach knapp fünfzig Jahren.
BS: Fuchfzg Joar is des scho her? Des glaub i net. Wenn des so weidageht, werd i ja direkt no oid.
KB: Dennoch können Sie sich noch gut daran erinnern.
BS: Na, ka Wunda. So was gibt’s net alle Tog. An Mord ohn’ ana Leich. Es woar ka Mord.
KB: Also, Sie glauben nicht, dass jemand, zum Beispiel der Wanderarbeiter Reinhard, ermordet wurde.
BS: Oba hearn’S ma damit auf. Der is oboscht, weidazogn, als er überhirnt hat, dass ihn die Franzi angschmiert hat.
KB: Wer ist die Franzi?
BS: Na, die Franzi eben. I woas goa nimma, wie’s mit vollm Noman ghasn hot. Sie hot’s donn späda an Schweizer g’heirat, is zu eam zogn. Ja, die hot’s gut troffn, die Franzi…
KB: Was war mit der Franzi und dem Reinhard?
BS: Ja, verschaut hot er se hoad in die Franzi, der Reni. Is ja a ka Wunda, di woar ja wirkli fesch, die Franzi.
KB: Die beiden waren ein Paar?
BS: Aba na, der Reni war nur a paar Tog in da Gegend.
KB: Ein Wanderarbeiter eben.
BS: Wieso kumman Se ma die gonze Zeit mit Eanan Wondaoabeita? So a Student woa des, aus Deitschland, der is mit zwei oder drei Habera durch die Lande gezogn.
KB: Das ist aber nicht in der Akte gestanden. Wir sind von einem Wanderarbeiter, eventuell aus dem Burgenland oder Ungarn, ausgegangen.
BS: Wos Se imma mit Eana Wondaoabeita hom! Oabeita! Des i net loach! Des woa a liabs Birschl, fesch, aba oabeiten, des hat der no nia in san Lebn miassa. Da hot a gschaut, der Reni, wiara pletzlich in da Werkstott onpoackn hat miassn. Fertig woa der, total erledigt.
KB: Ja, wieso hat er überhaupt in der Werkstatt gearbeitet? Ist ihm das Geld ausgegangen?
BS: Aba na. Wegn da Franzi. Di hot er bei der Werkstatt gtroffn. Und di hot eam eben gfolln. Sie hot behauptet, dass si in da Werkstatt oabeitet. Stell’s Sa se des vor: A Frau in ana Werkstatt! Aba er hat di Geschicht geschluckt und hot se heimlich beim Chef von der Werkstatt anstellen lassn.
KB: Was hat die Franzi bei der Werkstatt gemacht? War sie die Tochter…?
BS: Oba gehn’s. Wenn wenigstens so oafach warat! Na, die Franzi woar fesch, aba Göd hot’s hoalt net ghobt. Wia wir alle. Dem Besitza von da Werkstatt hoat’s gfolln, die Franzi, und da is di Franzi hold efta bei eam gwesn. Dafiar is von earm mol ausgfiart worn, oda hot a Kladl geschenkt bekuma. Wir woarn ja olle oarm. A jeda hot schaun miassn, wo a bleibt.
KB: Und als der Reinhard begriffen hat, dass die Franzi und der Besitzer von der Werkstatt…, also…, da ist er auf und davon.
BS: Eingschnoppt woa a wahrscheinlich! Männliche Eitelkeit! Und g’ärgert hot a si, weil er umsonst di schware Hackn in da Werkstatt gemocht hat. Eh nur a poar Tog!
KB: Darum hat er sich auch des Arbeitsgewands entledigt und im Bach …
BS: Wos hot a erledigt?
KB: Den Overall…
BS: Na, nix hot se erledigt. So a Depp. Die Franzi hätt ihn do eh wolln. Hot ihr a taugt, dass er wegn ihr di schware Hockn ang’nomma hat. Er hätt nur woartn brauchn und net einfach weg und davon und seinen Freindn noch.
KB: Die Franzi war doch mit dem Besitzer der Werkstatt liiert?
BS: Liiert? Na hearn’S oba auf. Dem hot’s ja nur schen toh. Und wenn scho, des woa ja nix fia’s Herz. Na, wenn’S mi frogn: Die Franzi und der Reni wärn schoa a schens Poar geworn, wenn der Depp net davo gerannt warat.

Sonntag, 11. Januar 2009

Kommissarin 3 - Kapitel 1

Sie hieß Sandra, war neunzehn Jahre jung (behauptete sie jedenfalls), hatte traumhafte Beine, langes Haar und einen furchtbar frechen Blick aus ihren grünen Augen. Ich hatte sie vor dem Kaffeeautomaten getroffen. Um genau zu sein: Bereits einen Monat zuvor hatte ich sie das Gebäude verlassen gesehen, sie flatterte davon wie ein bunter Schmetterling, der die Freiheit suchte. Als ich sie dann vor dem Kaffeeautomaten wieder entdeckte, wusste ich, dies wäre die Chance, um meine Netze auszuwerfen. Noch dazu, als ich merkte, dass sie mit dem Gerät kämpfte. Bevor ich um die Ecke gebogen war (und sie sich unbeobachtet glaubte), war sie gerade dazu übergegangen, ihre Fäuste durch Schläge gegen die Maschine zu malträtieren.
Da war ich auf den Plan getreten: Cool schlenderte ich zu ihr, trat mit dem Fuß gegen den Automaten (das war nämlich der Trick: ich kannte zwar nicht den Wirkungsmechanismus, aber Hauptsache, es funktionierte), und ein Strahl Kaffee schoß in den Becher. Selbstbewusst nahm ich den Plastikbecher aus der Halterung und reichte ihn ihr mit einem Lächeln. Ich schmiss die gefälschten Münzen, welche mir meine Kollegen in beachtlicher Menge zur Verfügung gestellt hatten, in den Schaft und begann, während ich auf den Kaffee wartete, lässig ein Gespräch mit ihr.
Sie erzählte mir über sich: Sie würde im Archiv arbeiten. Im Archiv? Das sei eine Art Mischung aus Dokumentationszentrum und Kanzlei, führte sie aus. Ich konnte mir nichts darunter vorstellen. Egal. Auf mein geschicktes Ausfragen erklärte sie mir sogar den Weg ins Archiv. Falls ich mal vorbei schauen wollte, meinte sie mit kokettem Augenaufschlag, schnappte ihre ziemlich voll gepackte Handtasche und ging. Zurück ins Archiv, vermutete ich Esel. Warum sie beim Weg zum Kaffeeautomaten im Haus eine Übergangsjacke trug, stellte ich damals nicht in Frage.
Nein, ich würde sie nicht besuchen, beschloss ich. Ich hatte eine viel bessere Idee, mit der ich sie überraschen wollte. Ich würde mich ins Archiv versetzen lassen. Still und heimlich stellte ich den Antrag, dem zu meiner Verwunderung nach nur zehn Tagen stattgegeben wurde. Am davon folgenden Morgen könnte ich bereits anfangen. Die Leitung freute sich über mein Engagement, verschiedene Dienststellen kennenlernen zu wollen. Meine Kumpels in der Kopierstraße waren hingegen ein wenig enttäuscht, dass ich sie verließ. In den zwei gemeinsamen Monaten hatten wir uns als gutes Team eingespielt. Ich deutete das wahre Motiv hinter meiner Versetzung an, sie grinsten verständnisvoll und wünschten mir viel Glück.
Schon um zehn vor acht meldete ich an meiner neuen Arbeitsstätte. Ich war nicht der Erste. Drei Damen waren rund um eine Kaffeemaschine versammelt und kommentierten eifrig den Fluss der braunen Brühe durch den Filter. Lauter Frauen, so ab fünfzig, in Kostümchen und mit dauergewellter Frisur, die eines wöchentlichen Besuchs bei ihrem »Coiffeur« bedurfte. Solche Arbeitskolleginnen hatten mir gerade noch gefehlt! Dagegen waren die Hackler im Keller Gold wert. Während mir erste Zweifel an der Klugheit meiner Entscheidung aufkamen, zählte ich unauffällig die Arbeitsplätze in dem Raum. Vier Tische. Erleichtert atmete ich auf.
»Sie müssen der Herr König sein«, wurde ich in meinen Gedanken unterbrochen. »Unser Praktikant.«
Ich blickte umher: Wer außer mir trat noch den Dienst in dieser Abteilung an? Ich konnte aber niemanden entdecken.
Dreistimmiges helles Lachen hallte mir entgegen. Sie hatten mich gemeint. »Guten Tag, ich bin René Kaiser«, stellte ich mich vor und meinen Namen richtig. Fuhr mit der Klarstellung fort, dass ich kein Praktikant wäre, sondern dieses Semester hier arbeitete und einige Abteilungen kennenlernen wollte.
»Sehr löblich«, zwitscherte Frau Schmeißer, die – wie ich innerhalb kurzer Zeit begriff – die Chefin des vierköpfigen Archivteams war.
»Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was an Kilometern verstaubten, vergilbten Akten so interessant ist«, ergänzte ihre Kollegin, Frau Meier »mit e i. Wie das Frühstückei«. Ich sah mich um. In dem hellen, freundlichen Raum entdeckte ich keinerlei Akten, gechweige denn verstaubte oder vergilbte Papiere. Die Tische waren erstaunlich leer. Nur die Handtaschen der Damen, daneben jeweils ein witziges Handy, waren darauf abgelegt. Die Computer hatten eigene Tische gewährt bekommen. Meine Kumpel würden sich in ihren Vorurteilen über die »Bürotussies« bestätigt fühlen.
Das eigentliche Archiv bekam ich noch am gleichen Vormittag vorgeführt. Drei Türen weiter betrat man eine Zimmerflucht, fensterlos, in welcher der Staub in der stickigen Luft mit freiem Auge zu sehen war. »Wir haben Akten, die bis zur Märzrevolution zurückreichen«, verkündete die »Meier mit e i« mit – wie es mir schien – einer Spur Stolz. Ich kramte in meinen Geschichtskenntnissen. Die Märzrevolution … Da war ja mein Ur-Ur-Großvater noch ein Kind gewesen – oder war dies mein Ur-Ur-Ur-Großvater? Nun aber schrieb ein Erlass die elektronische Erfassung aller Akten vor. »Leider kommen wir vor lauter anderer Arbeit nicht dazu.« Mir schwante Übles. Ich blickte auf den Computer im Archiv, den das Frühstücksei aus Demonstrationszwecken eingeschaltet hat, grüne Schrift vor schwarzem Hintergrund, ein Modell, das selbst in einem Industriemuseum nicht mehr genommen würde, aber immerhin, um was Positives zu sagen, zu der archivarischen Umgebung passte er.
»Bis wann?« hauchte ich. Plötzlich fühlte ich mich schwach. Eine wunderbare Aufgabe für einen Praktikanten oder einen, den sie konsequent für einen solchen hielten.
»Was?« Das Ei blickte mich verwundert an. »Ach so, die Frist für die elektronische Erfassung. Eigentlich zwei Jahre.« Sie kicherte. Mir schwindelte.
»Im November 1999 hat so ein Klugscheißer von einem Jungjuristen« – ich zuckte zusammen – »den Erlasstext verfasst. Um zu zeigen, wie gescheit er doch ist, hat er kein Datum reingeschrieben, sondern stattdessen: Am Ende dieses Jahrtausends muss die Eingabe abgeschlossen sein. Damit meinte er: Ende zweitausend. Er wollte den Leuten beibringen, dass das Millenium Ende zweitausend, nicht Ende neunzehnneunundneunzig aus ist.« Sie kuderte erneut. »Humpty, Dumpty«, schoss mir durch den Kopf. »Nur hat es eine Weile gedauert, bis der Erlass alle zuständigen Stellen im Haus passiert hat. So wurde er erst im April 2001 unterzeichnet. Nun haben wir das nächste Jahrtausend Zeit.« Ich atmete erleichtert auf und bekam prompt einen Hustenanfall. Zuviel stickige Luft.
»Wir haben genug mit unserer laufenden Arbeit zu tun«, führte das Ei mit M am Anfang und ER am Ende aus (auch wenn mir in den ersten Stunden noch nicht klar geworden war, worin diese – abgesehen der Analyse der Filterkaffeemaschine und der Organisation eines gemeinsamen Frühstückeinkaufs – genau bestand). »Wenn Sie uns bei diesem Jahrhundert-, nein, was sage ich, Jahrtausendprojekt unterstützen wollen ...«
Ich begann mich vorsorglich zu wehren (irgendwas musste ich doch im Keller gelernt haben): »Wissen Sie, ich leide unter einer Stauballergie ...«
Meine Begleiterin sprach unberührt weiter: »Die Einzige, die sich darum kümmert, ist Alexandra, also Frau Steiner, auf deren Tisch Sie derzeit sitzen.« Ich stand zwar im Moment, und auf einen Tisch hatte ich mich auch nicht gesetzt. Aber ich wusste, was sie meinte. Den vierten Arbeitsplatz. Freche grüne Augen lachten mich im Geiste an. Der Gedanke an sie machte sogar die Arbeit in dem staubigen Archiv zu einer prickelnden Herausforderung. Ich bot an, Frau Steiner, sobald diese nach ihrem Krankstand zurück käme, im Archiv zu helfen. Ein wenig hegte ich die Sorge, ob ich in dieser stickigen Umgebung meinen Charme hervor kehren konnte. Wütend dachte ich an das Foto eines (solarium-)gebräunten, durchtrainierten Mannes auf ihrem Schreibtisch. Der war längst über dreißig. Viel zu alt für sie!
So vergingen ein paar Tage. Wir warteten auf Frau Alexandra Steiner (für mich: Sandra). Ich wusste nicht wirklich, was ich tun sollte, und die netten Damen hatten auch keinen Schimmer, was sie mir von ihrer scheinbar so umfangreichen und komplexen Arbeit abgeben könnten. Also beschäftigte ich mich damit, mich mit dem Computer (nicht das Museumsstück vom Archiv, sondern das Standardmodell auf Sandras Schreibtisch) »vertraut zu machen«. Zum Glück waren die gängigen Spiele des Softwarepakets (die »Fenster« des Onkel Bill aus Amerika) drauf. Dass ich erst um neun Uhr (ich hatte nicht gewagt, zehn Uhr vorzuschlagen) meinen (inoffiziellen) Dienstbeginn hätte, kam leider bei den Damen keinesfalls in Frage. Dem konnten sie nicht zustimmen, obwohl sie mir, nicht zuletzt wegen der »reparierten« Kaffeemaschine, wohlgesonnen waren. Ich hatte einmal die polizeiliche Kaffeemaschine mitgenommen, sie bei einem WG-Festl zu fortgeschrittener Stunde heimlich durch eine andere ausgetauscht (ich wusste auf Grund zeitweiliger Übernachtungen in der Wohnung, dass es genau die gleiche Marke war) und das Ergebniss meiner »Reparaturarbeiten« am nächsten Morgen stolz präsentiert.
Endlich kam der große Tag. Als ich morgens um kurz vor halb neun müde den Gang entlang trottete, verzog Humpty Dumpty gar nicht einmal das Gesicht wegen meiner (üblichen) Verspätung, sondern flötete mir zu. »Frau Steiner ist da!« Erschreckt fragte ich mich, ob womöglich schon alle mitbekommen hatten, wie sehnsüchtig ich Sandra erwartete.
Ich richtete mich auf, zauberte ein strahlendes Lächeln auf mein Gesicht und betrat das Zimmer. Auf »meinem« Platz saß eine grauhaarige, ältere Dame. Ich musste sie fassungslos angestarrt haben. Hinter mir, bildete ich mir ein, Sandras (schadenfrohes?) Kichern zu hören.
Bevor ich mich von meinem Schock erholen konnte, hörte ich Frau Schmeißers Stimme: »Herr Kaiser, darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen. Sie ist kurz auf Besuch hier, muss dann weiter auf die Uni, zur Vorlesung.« Mütterlicher Stolz schwang mit. »René Kaiser – meine Tochter Sandra.« Ich drehte mich um und blickte in freche grüne Augen.

Donnerstag, 8. Januar 2009

Kommissarin 2 - Kapitel 1

RENÉ UND DIE ZWEI FRAUEN

Kapitel 1

Dieses Jahr sollte ich besser aus dem Kalender streichen. Alles war schiefgelaufen. Dass ich letztes Semester in Verfassungsrecht durchgerasselt war, hatte mir den Rest gegeben. Bei drei weiteren Prüfungen war ich gar nicht mehr angetreten. Das hatte den Ausschlag gegeben. Für ihn, meinen Erzeuger.
Eigentlich war die Einführung der Studiengebühren daran Schuld. Davor hatte ich mich vielleicht zwar nicht gerade als Musterstudent präsentiert, aber es ging so dahin. Mäßig, aber konstant. (Der Alte sah das naturgemäß anders.) Die Bude finanzierte mir mein Alter (es war ohnehin eine abbezahlte Eigentumswohnung, mieser Altbau, wo er den Vormieter rausgeschmissen hatte, nachdem der bereits drei Mal, im Vollrausch, versucht hatte, die Wohnung anzuzünden, weil er mit einer brennenden Tschick eingeduselt war); und den Rest des Lebens organisierte ich mir selbst, mit diversen Mc-Jobs. Ich war die meiste Zeit pleite, außer ich hackelte gerade mehr, da blieb das Studium eben liegen. Wie ich auf Jus mit seienn stockkonservativen Professoren und den biederen Studenten mit Papas Porsche und Omas Villa im neunzehnten Wiener Gemeindebezirk gekommen war, kann ich nicht mehr nachzuvollziehen. Aber es ist auch schon lange her, als ich (wirklich ich?) diese Entscheidung gefällt hatte.
Mit den Studiengebühren änderte sich mein Leben. Ich konnte das Studium nicht mehr selbst finanzieren. Ich hatte überlegt, die Gelegenheit zu nützen und den heiligen Haalen auf Wiedersehen zu sagen. Das allerdings wollte mein Alter nicht. Wir schlossen einen Deal. Er zahlte diese dämlichen Gebühren und gab mir auch so genug Kohle, damit ich (ehrlich gesagt) ganz fein leben konnte; ich musste als Gegenleistung einen »stetigen Studienerfolg« aufweisen. Jedenfalls sollte ich bis zu meinem Dreißiger soweit sein, um Mag. iur. vor meinen Namen schreiben zu dürfen, sonst würde er die Zahlungen einstellen. Für immer. Vier Jahre verblieben mir, als wir diesen Vertrag eingingen.
Ja, ja, ich höre euch sagen: Damit war das Dolce Vita vorbei, jetzt hast dich auf deinen Hintern setzen müssen. Nein, spart euch den Spott. Eigentlich wäre das Leben schöner geworden. Zum einen wurde ich die dämlichen Mc-Jobs los. So lustig war das auch nicht immer: Irgendwann um fünf in der Früh aufkräulen, um halbwegs pünktlich bei der Morgenschicht zu erscheinen, oder wie ein schwachsinniger Clown als Sandwichmann, der für einen Klischee erfüllenden Stadtheurigen wirbt, auf der Kärntner Straße bei über dreißig Grad Hitze auf und ab zu wandern. Zum anderen war ran ans Lernen nicht so übel: Auf einmal entdeckeich, dass das Fach, welches ich als Studium gewählt hatte (oder wählen hatte lassen), im Grunde gar keine schlechte Wahl war. Wenn man mal die Profs, die Burschis aus dem Westen von Wien und die Mädels in den Armani-Kostümchen beiseite lässt. Aber inhaltlich war das manchmal (beinahe) spannend. Außer Gesellschaftsrecht, das hielt ich nicht aus: Den Mist mit den Gesellschaften mit beschränkter (geistiger) Haftung und den vor kapitalistischen Werten nur so triefenden Aktiengesellschaften. Ich weiß schon, dies ist wichtig, für bestimmte Herrschaften: Denn wenn man später in den Aufsichtsräten sitzt, sollte man schon wissen, was die Regeln des Spiels sind, für das man sein Körberlgeld kassiert.
Am interessantesten fand ich Verfassungsrecht. Mir sind Ohren und Augen aufgegangen. He, mir machen die Beamten und die Politiker nichts mehr vor! Ausgerechnet da bin ich durchgerasselt. Ich war spitze vorbereitet – und war nervös wie noch nie in meinem Leben. Das kam vom Büffeln. In der gebührenfreien Zeit bin ich immer bei den Prüfungen lässig angetreten, im Grunde ziemlich blank, trotzdem kam ich öfters durch. Und nun: Verfassungsrecht versaut!
Mein Alter hat gesponnen. Nach unserem Deal war es auf der Uni gut gelaufen, stolz hatte er meinen Studienfortschritt beobachtet. Dass Verfassungsrecht ein Ausrutscher war, wollte er nicht glauben, sonst hätte ich, so seine Argumentation, nicht die anderen Prüfungen geschmissen. Nein, ich wäre, meinte er, wieder in mein altes Luderleben zurückgefallen. Aus, schrie er, er hätte die Schnauze voll. Mist, jetzt wollte aber ich das Studium zu Ende bringen.
Wir stritten fürchterlich. Er ist ein oller Dickschädel. Schließlich erklärte er sich bereit, »mir noch eine Chance zu geben«, wie er gönnerhaft kundtat. Aber das versaute Semester musste ich rückbezahlen. Quasi. Mit einer faden Bürohacken. Die er für mich organisiert hatte.
Mein Alter hatte es sich wunderbar ausgedacht. Zu einem dieser Oberheinis meiner neuen Dienststelle pflegte er seit Bundesheerzeiten regelmäßigen, feucht-fröhlichen Kontakt. Damit hatte er die soziale Kontrolle über seinen nichtsnutzigen Sohn gewährleistet. Mit seinem Haberer hatte er auch meine besonderen Arbeitszeitregelungen vereinbart. Ich sollte Teilzeit arbeiten, vier Tage in der Woche (Mittwoch frei), insgesamt 24 Wochenstunden, vormittags, damit ich nicht weiterhin das Studium vernachlässige. Ich kam mir auf einen Status eines Kleinkindes reduziert vor.
Ihr wollt wissen, wo er mich untergebracht hatte. Ich wage es kaum zu verraten. Bei der Polizei. Kann sich das wer vorstellen? War eine zusätzliche Schikane von ihm. »Weust di immer auf die Demos rumtreibst«, hatte er gemeint. Vielleicht hatte er gehofft, dass ich mein Herz für die Kieberei entdecke. Oder deren Effizienz anerkenne.
Sorry, falls er letzeres bezwecken wollte, hatte er die falsche Abteilung für mich aussuchen lassen. Sie hatten mich in die Kopierstraße gesteckt. Großartiger Job. Nicht neu für mich, ich hatte früher schon mal in einem Copy Shop gearbeitet. Gegenüber der Uni. Da war aber ein anderes Publikum aufgekreuzt. Ständig war damals was los. Mein selbstgewählter Job im Copy-Shop war ja ganz okay, viele Mädels, die kamen. Die polizeiliche Kopierstraße, die war das Gegenteil davon (Warum die so hieß, weiß ich nicht – wenn auf einer Straße Autos in einem solchen Tempo schlichen, gäbe es eine Massenkarambolage von Wien nach Bregenz!) Ich sag’s euch! Wenn sich dort an einem Tag drei Angestellte blicken ließen, wurde ein neuer Rekord aufgestellt! Meist zeigten sich nur gespreizte Sekretärinnen. Die jedoch dort unten (der Raum lag beinahe im Keller: von den vorbeigehenden Passantinnen auf der Straße sah man gerade die in Schuhen gequälten Füße und Beine bis zum Rockansatz) auf Granit bissen. Eine interessante Sozialstudie, wer in der Kopierstraße arbeitete: Ein Mundl wirkte wie ein Menschenfreund neben meinen Hackler-Kollegen im Keller. Auf den ersten Blick. Im Grunde waren sie, stellte ich nach einiger Zeit überrascht fest, ganz umgänglich, solange man sie nicht mit Arbeit belästigte. Oder sich nicht über die Volksmusik aufregte, die den ganzen Tag in unerträglicher Lautstärke plärrte, um die Maschinen übertönen. Und bei ihren tiefen – ich geb’s zu, frauenfeindlichen Witzen – mitlachte.
Ich hatte mich bereits darauf eingestellt, das Semester im Keller zu verbringen. Nach zwei Wochen Misstrauen, während deren sich die beiden Bediensteten weigerten, mit mir (»an gstopften Studierten«) zu sprechen oder mir eine Aufgabe zu übertragen, beschlossen sie plötzlich mich einzuschulen. Ich wurde für die Kopierstraße verantwortlich. Konkret von zehn bis dreizehn Uhr (außer Mittwoch, da hatte ich frei). Denn zu der Zeit gingen meine Kollegen auf Pause, getreu ihrer Tradition, die sie wegen meines Erscheinens (ein Spitzel von oben?) zehn Tage lang ausgesetzt hatten. Zunächst Frühstücken im Kaffeehaus, dann Mittagessen in der Kantine und als Abschluss noch auf einen Spritzer im Beisl eine Straße weiter. Währenddessen hielten sie die Kopierstraße geschlossen (die Maschinen liefen, soweit voreinstellbar, ohnehin weiter), draußen hatten sie ein selbst gebasteltes Schild aus Karton »No Parteienverkehr« ausgehängt. Sie hatten jedes Recht auf die Auszeit, fanden sie, schließlich begannen sie schon um sechs Uhr in der Früh zu hackeln. Wenn es die Bürotussies nicht schafften, bei ihnen vor zehn Uhr vorbeizuschauen beziehungsweise zwischen eins und zwei (da saßen die feinen Damen beim Frisör, waren meine neuen Kollegen überzeugt), dann wäre das deren Pech.
In Wahrheit hatte ich es mit der Kopierstraße recht gut getroffen. Wir vertrauten einander. Keiner würde dem anderen ein Hakel ins Kreuz hauen. Ich gab ihnen die Stempelkarte, damit sie um acht in der Früh für mich einstachen, tatsächlich tauchte ich erst kurz vor zehn Uhr auf. Nachdem sie sich vertschüßt hatten, übernahm ich den Laden: Ich stellte das plärrende Radio ab, überwachte ein wenig die Maschinen und verbrachte in dem unwirtlichen Keller einen durchaus gemütlichen Vormittag. Ich musste lediglich den Auftrag beachten, die Arbeiten nicht zu schnell zu erledigen. »Wennst was zu schnöl machst, wolln’s ima mehr«, kannten meine Kollegen die Weisheiten, die sie fürs (angenehme) Überleben als wichtig erachteten. Also gönnte ich den Maschinen zwischendurch bewusst eine halbe, dreiviertel Stunde Pause. Nach der Rückkehr meiner Kollegen um ein Uhr leistete ich ihnen noch eine Weile Gesellschaft; wir plauschten, tranken ein Achtel, spielten Karten. Pünktlich um Punkt zehn vor zwei Uhr machten wir den Laden dicht.
Warum nur bin ich von dort weggegangen?

Mittwoch, 7. Januar 2009

Kommissarin 1 - Prolog

Prolog

Der Herbst zeigte sich in all seinen Farben. Raschen Schrittes nahm sie die Stufen, je zwei auf einmal, beim vorderen Aufgang der U-Bahnstation Stadtpark, vorbei an der übergewichtigen Mitarbeiterin des Gartenbauamtes, die müde und demotiviert das Laub zusammenkehrte, überquerte auf der Fußgängerbrücke den Wienfluss. Blick nach links, zum Tunnel mit pseudobarockem Zierwerk, welcher das Gewässer, das sich Fluss nannte, aufnahm; kurzer Schwenk nach rechts, zu den Hochhäusern rund um den City Air Terminal, deren Glasfronten sich im morgendlichen Sonnenlicht spiegelten.
Sie genoss den Spaziergang, amüsierte sich über die Enten, die am Wegesrand entlang watschelten, als wollten sie mit den frühen Parkbesuchern, flotten Fußes unterwegs (um so rasch wie möglich den Arbeitsplatz zu erreichen) und mit den sportlichen Joggern und nordischen Walkern (deren Gang denen der Enten ähnelte) Schritt halten.
Sie versank in Erinnerungen. Nur wenige Jahre lag es zurück, da hatte sie diesen Weg gehasst. Damals war sie rund um den Stadtpark spaziert, da die U4 noch nicht über den vorderen Ausgang mitten im Park verfügt hatte. Sie hatte vermieden, bei der näher gelegenen Station Landstraße auszusteigen, weil sie dort Gefahr lief, eine einstige Kollegin, die von der Schnellbahn in die U3 umstieg, zu treffen. Darum hatte sie den Marsch (er war ihr wie eine Gewalttour vorgekommen) außen um den Park vorgezogen. Gewatschelt war sie, wie die Enten, ihre fast hundert Kilo mühsam mit sich herumgeschleppt. Je näher sie dem Stubenring gekommen war, umso zögerlicher hatte sie sich vorwärts bewegt. Nicht nur wegen der Fettlast. Sie hatte das Eckhaus, insbesondere die Mansarde im letzten Stock, verabscheut. Aus tiefstem Herzen gehasst! Symbol ihres Abstiegs, ihres Sturzes, von dessen brutalen Aufprall sie sich lange nicht erholt hatte.
Und heute? Fröhlich schlenderte sie durch den Park, längst nicht mehr watschelnd, sondern federnd. Um über dreißig Kilo erleichtert, erlebte sie den Spaziergang als Auftakt zu einem Tag, den sie in ihrem Sinne gestalten würde. Der Staat bezahlte sie für das, was ihr Spaß machte. Er wusste es nur nicht. Sie leistete nicht das, was von ihr erwartet wurde, sondern machte ganz was anderes. Aber das, was die als ihre Aufgabe definiert hatten, interessierte weder ihre Chefs noch den Staat. Noch sie selbst.
Wie immer verließ sie den Stadtpark direkt an der Kreuzung des Parkrings mit der Welskirchnerstraße, welche in den Dr.-Karl-Lueger-Platz mündete. Sie war beinahe am Ziel angelangt. Richtiggehend verliebt blickte sie das gegenüber liegende Eckhaus an; nach den drei Wochen Urlaub, so sehr sie ihn genossen hatte, freute sie sich auf ihren Arbeitsplatz.
Mit Interesse registrierte sie den Umbau der öffentlichen Toiletten, deren Gestank als morgendliche Begrüßung sie stets genervt hatte. Die Blumen der beiden Kioske daneben erhielten endlich die Chance Frische auszustrahlen.
Während sie über den Zebrastreifen der Welskirchnerstraße düste, schmiedete sie Pläne für den Tag. Zuerst einmal würde sie die Fenster aufreißen, um die stickige Luft, die sich in ihrer Abwesenheit sicherlich angestaut hatte, mit dem Straßenstaub zu mischen. Währenddessen könnte sie auf eine Melange in das Kaffeehaus im gleichen Gebäude, dessen Name ihrem ähnelte, gehen. Oder sie nutzte die Zeit, um das Büro zu reinigen. Nachdem ihr der Staat keine Putzfrau mehr gönnte, blieb ihr diese Arbeit. Was ihr durchaus recht war. So konnte niemand herumschnüffeln. Ein Besuch im Kaffeehaus musste auf jeden Fall drin sein, entschied sie, gleich als Einstieg oder als Belohnung nach dem Putzen.
Danach auf den Hometrainer. Mindestens eine halbe Stunde. Dazu die CD mit Jelineks »Das Lebewohl«. Dann unter die Dusche, gefolgt von einem kleinen Espresso, mit der Caffettiera auf der Herdplatte gekocht.
Erst nach all diesen Vorbereitungen würde sich die Kommissarin an die Arbeit machen. Ein Stapel wartete auf Durchsicht. Für den Abend musste sie sich auch noch vorbereiten. Ja, es gab viel zu tun.
Trotzdem würde sie auf den Kaffeehausbesuch, den Hometrainer sowie einen Gruß an ihre »lieben« Kolleginnen nicht verzichten. Entschlossen betrat sie das Gebäude am Stubenring durch den versteckt gelegenen Eingang bei der Hausnummer 24b, ließ den Aufzugkäfig links liegen und sprintete die flachen Stufen in den vierten Stock hinauf. Ihre Dienstmansarde war eigentlich im sechsten Stock angesiedelt. Typischer Wiener Altbau, wo das Mezzanin und das Hochparterre als zusätzliche Etagen zwischen Erdgeschoss und erstem Stock dienten, aber nicht mitgezählt wurden.
Sie war kaum außer Atem gekommen, stellte sie zufrieden fest, während sie die Tür zu »ihrem« Büro aufsperrte. Der Tag konnte beginnen!