Buchtipp: "Die vierundfünfzigste Passagierin"

Lisa, die biedere Büroangestellte, fühlt sich ausgebeutet und unverstanden. Eine Dienstreise wird zum Sprungbrett für die vermeintliche Freiheit. Sie kehrt dem Arbeitsalltag den Rücken. Die Flucht aus dem öden Dasein birgt allerdings ungeahnte Gefahren. Und Mona, die Lisa für ihre Lebensretterin hält, ist der Aussteigerin auf der Spur.

"Die vierundfünfzigste Passagierin", der erste Roman von Franca Orsetti, erschienen im UHUDLA-Verlag.

480 Seiten, Farbeinband. Euro 17,80. Erhältlich im guten Fachhandel oder direkt beim UHUDLA (Bestellformular)

Freitag, 30. Januar 2009

Kommissarin 11 - Kapitel 3

Wer die Schmalbaum war? Na, jene Altersheimbewohnerin, welche die KB noch vor kurzem befragt hatte. In dem Fünfziger-Jahre-Fall mit der Werkstätte, wo ein Wanderarbeiter (oder war es doch ein Student?) verschwunden war. Keine Leiche, nichts. Zuerst hatte er sich, obwohl ihm die Arbeit nicht lag, dort anstellen lassen, wegen eines Mädels (dumme Parallele zu mir!), danach war und blieb er verschollen.
Ich hatte nicht nachrecherchiert; das mit der Schmalbaum hatte ich rein zufällig rausgefunden. Eigentlich war die Sandra dran schuld. Mit ihrer Geheimniskrämerei. Und ihren Lügengeschichten. In ganz Wien hingen diese überdimensionalen Plakate von dem »ach so« herzigen Elefantenbaby herum, das es im Tierpark Schönbrunn zu bestaunen gab. Ich konnte mich wirklich nicht dafür begeistern, hielt dies für eine Werbemasche eines privatisierten Zoos, der sich mit Hilfe von allerlei Einfällen und überhöhten Eintrittsgeldern am Markt zu behaupten versuchte, aber Sandra wollte unbedingt den kleinen Jumbo sehen. All ihre Freundinnen hätten ihn schon bewundert, nur sie noch nicht … Also gut! Natürlich erklärte ich mich bereit, mit ihr zu dieser absoluten Besonderheit Wiens zu pilgern.
»Nächsten Mittwoch«, hatte sie vorgeschlagen.
Natürlich hatte ich an den Abend gedacht. Wir trafen uns immer abends. »Ich dachte, da hättest du keine Zeit«, hatte ich mich gewundert und es nicht lassen können, mit spöttischer Miene festzustellen: »Du hast doch dieses Proseminar, oder was auch immer das ist.«
Mir war es aufgefallen: Unter dem Make-Up war sie rot geworden. »Das ist auch am Abend. Wir gehen doch nicht zu später Stund’ nach Schönbrunn. Für die Nachtbesuche muss man sich monatelang vorher anmelden.« Was sie nicht alles wusste! »Ich dachte, zu Mittag, am frühen Nachmittag. Du hast doch am Mittwoch deinen freien Tag.«
Hatte sie sich das gemerkt! Es freute mich, dass sie mir mehr Interesse entgegenbrachte, als sie vorgab. Okay, dass ich eigentlich mehrere Vorlesungen an dem Tag belegt hatte, hatte sie verschwitzt, und ich wollte es auch nicht so eng sehen. Wir vereinbarten uns für den kommenden Mittwoch, ein Uhr, U-Bahnstation Hietzing.
Auf Frauen ist kein Verlass. Am Dienstag rief sie an und sagte ab. »Begründung«: Sie müsse für die Uni was fertigstellen. Ha ha. Das ausgerechnet in den zwei Stunden, in denen wir »das herzige Elefantenbaby« anschauen wollten.
Ich ließ sie spüren, dass ich ihr kein Wort abnahm. »Etwa für das Proseminar am Mittwoch Abend?« Wahrscheinlich hatte der Typ, mit dem sie sich am Abend traf, diesmal zu Mittag Zeit. Und der ging natürlich einem René vor, der sofort angelaufen kam, wenn sie nur einmal mit ihren grünen Augen funkelte.
Ich hatte sie mit meiner spitzen Art vor den Kopf gestoßen. Sie bemühte sich um eine Erklärung: »Wir sollen Interviews mit älteren Menschen machen, um Einblick über die Zeit der dreißiger, vierziger, auch fünfziger Jahre zu bekommen. Eigentlich hätte gestern eine entfernte Großtante zu meiner Mum auf Besuch kommen sollen, und ich dachte, ich verbinde das gleich. Dann hat sie kurzfristig abgesagt, weil es ihr nicht gut ging.« Hey, diese Geschichte stimmte sogar. Sandras Mutter hatte von dem geplatzten Besuch erzählt. Die Schmeißer hatte das ganze Wochenende gebacken. Umsonst. Die großtantlich missachteten Kuchenstücke hatte sie Dienstag früh der Kaffeerunde angeboten. »Daher habe ich rasch umdisponieren müssen. Ich habe in einem Altersheim gefragt, ob ich dort mit ein paar Leuten sprechen könnte. Es war schwierig genug, einen Termin zu bekommen. Weißt du, so kurzfristig.«
»Wieso kurzfristig?« hatte ich mich dumm gestellt.
»Na ja, ich brauch’s bis Mittwoch Abend.«
»Hast du da ein Geschichte-Seminar?« Wollte sie mir einreden, sie bräuchte das für ihr Betriebswirtschaftsstudium?
»Geschichten?« Sie schien unangenehm berührt. »Nein, ich benötige das für ein Soziologie-Proseminar.«
Hatte sie sich wieder fein herausgeredet. Aber besuchte sie nicht am Mittwoch Abend ein Proseminar in Kostenrechnung? Hatte sie jedenfalls auch mal behauptet.
»An welches Altersheim hast du dich gewandt? An das Geriatriezentrum am Wienerberg?« Es war das Einzige, das mir einfiel. Ach ja, in einer KB-Akte war es erwähnt worden.
Sie ergriff das Hölzerl, das ich ihr geworfen hatte. »Genau«, tat sie ein wenig auf überrascht, »dort habe ich einen Termin. Am Mittwoch um eins.« Quasi, als wollte sie mir vermitteln, dass sie noch weitere Altersheime kannte, fügte sie hinzu: »Weißt du, Lainz wollt’ ich nicht nehmen, nach dem, was dort immer wieder passiert.«
»Soll ich dich begleiten?«
Erwartungsgemäß lehnte sie ab.
Nicht, dass ich sie kontrollieren wolle, redete ich mir ein, als ich am Mittwoch, um etwa halb zwei am Reumannplatz in die Straßenbahn Nummer 67 in Richtung Otto-Probst-Platz einstieg. Ich wusste in meinem Inneren, dass sie mich mit ihren Geschichten an der Nase herumführte. Natürlich wäre sie nicht dort. Aber ich könnte so tun, als ob ich ihr glaubte und sie abholen, überlegte ich, als die Straßenbahn den Hügel entlang einer gelben Wohnhausanlage, von Favoritnern als »Senfburg« bezeichnet, hinab rollte.
Beinahe wäre ich zu spät ausgestiegen. Verwundert starrte ich den Gebäudekomplex an. Das sah mehr wie eine Wohnhausanlage denn wie ein Altersheim aus. Allerdings muss ich gestehen, weiß ich nicht, wie ein Altersheim aussehen sollte. Ich hatte als Kind meine Ur-Großmutter auf der Pflegestation eines Heims mehrmals besucht. Das hatte ich von einem Spital nicht unterscheiden können. Ich konnte mich nur an die bedrückende Atmosphäre, an verwirrte, alte Frauen, die mir über den Kopf strichen und Unverständliches murmelten, und an den entsetzlichen Krankenhausmief erinnern.
Aber das hier, das war ganz was anderes. Auch die Pensionistinnen und Pensionisten, die mir am Weg von der Straßenbahn zum Geriatriezentrum entgegenkamen, wirkten lebensfroh, gepflegt und gesund. Bestenfalls ein Stock oder leichtes Hinken. Von Demenz keine Spur. Die könnte sich dort auch niemand leisten, dachte ich spöttisch, als ich das Gebäude betreten hatte und mich verunsichert umsah. Würde ich hier wohnen, war ich überzeugt, würde ich mich tagtäglich verlaufen.
Mittlerweile war es knapp vor zwei Uhr. Was machte ich hier? fragte ich mich entsetzt, als ich mich unauffällig in einen Fauteuil im Eingangsbereich sinken ließ. Was für eine Schnapsidee, hergekommen zu sein! Sollte ich den ganzen Nachmittag da sitzen und auf Sandra warten, die sicher nicht vorbei kam. Wütend auf mich selbst, blätterte ich gleichgültig die herumliegenden Illustrierten durch. Sie interessierten mich nicht.
Nach und nach fiel meine Präsenz den Heimbewohnerinnen auf, die sich für ein Plauscherl in dem Raum niedergelassen hatten. Nach etwa zwanzig, dreißig Minuten sprach mich schließlich eine ältere Dame, die mich seit einiger Zeit ins Visier genommen hatte, an: »Warten Sie auf jemanden?«