Buchtipp: "Die vierundfünfzigste Passagierin"

Lisa, die biedere Büroangestellte, fühlt sich ausgebeutet und unverstanden. Eine Dienstreise wird zum Sprungbrett für die vermeintliche Freiheit. Sie kehrt dem Arbeitsalltag den Rücken. Die Flucht aus dem öden Dasein birgt allerdings ungeahnte Gefahren. Und Mona, die Lisa für ihre Lebensretterin hält, ist der Aussteigerin auf der Spur.

"Die vierundfünfzigste Passagierin", der erste Roman von Franca Orsetti, erschienen im UHUDLA-Verlag.

480 Seiten, Farbeinband. Euro 17,80. Erhältlich im guten Fachhandel oder direkt beim UHUDLA (Bestellformular)

Mittwoch, 7. Januar 2009

Kommissarin 1 - Prolog

Prolog

Der Herbst zeigte sich in all seinen Farben. Raschen Schrittes nahm sie die Stufen, je zwei auf einmal, beim vorderen Aufgang der U-Bahnstation Stadtpark, vorbei an der übergewichtigen Mitarbeiterin des Gartenbauamtes, die müde und demotiviert das Laub zusammenkehrte, überquerte auf der Fußgängerbrücke den Wienfluss. Blick nach links, zum Tunnel mit pseudobarockem Zierwerk, welcher das Gewässer, das sich Fluss nannte, aufnahm; kurzer Schwenk nach rechts, zu den Hochhäusern rund um den City Air Terminal, deren Glasfronten sich im morgendlichen Sonnenlicht spiegelten.
Sie genoss den Spaziergang, amüsierte sich über die Enten, die am Wegesrand entlang watschelten, als wollten sie mit den frühen Parkbesuchern, flotten Fußes unterwegs (um so rasch wie möglich den Arbeitsplatz zu erreichen) und mit den sportlichen Joggern und nordischen Walkern (deren Gang denen der Enten ähnelte) Schritt halten.
Sie versank in Erinnerungen. Nur wenige Jahre lag es zurück, da hatte sie diesen Weg gehasst. Damals war sie rund um den Stadtpark spaziert, da die U4 noch nicht über den vorderen Ausgang mitten im Park verfügt hatte. Sie hatte vermieden, bei der näher gelegenen Station Landstraße auszusteigen, weil sie dort Gefahr lief, eine einstige Kollegin, die von der Schnellbahn in die U3 umstieg, zu treffen. Darum hatte sie den Marsch (er war ihr wie eine Gewalttour vorgekommen) außen um den Park vorgezogen. Gewatschelt war sie, wie die Enten, ihre fast hundert Kilo mühsam mit sich herumgeschleppt. Je näher sie dem Stubenring gekommen war, umso zögerlicher hatte sie sich vorwärts bewegt. Nicht nur wegen der Fettlast. Sie hatte das Eckhaus, insbesondere die Mansarde im letzten Stock, verabscheut. Aus tiefstem Herzen gehasst! Symbol ihres Abstiegs, ihres Sturzes, von dessen brutalen Aufprall sie sich lange nicht erholt hatte.
Und heute? Fröhlich schlenderte sie durch den Park, längst nicht mehr watschelnd, sondern federnd. Um über dreißig Kilo erleichtert, erlebte sie den Spaziergang als Auftakt zu einem Tag, den sie in ihrem Sinne gestalten würde. Der Staat bezahlte sie für das, was ihr Spaß machte. Er wusste es nur nicht. Sie leistete nicht das, was von ihr erwartet wurde, sondern machte ganz was anderes. Aber das, was die als ihre Aufgabe definiert hatten, interessierte weder ihre Chefs noch den Staat. Noch sie selbst.
Wie immer verließ sie den Stadtpark direkt an der Kreuzung des Parkrings mit der Welskirchnerstraße, welche in den Dr.-Karl-Lueger-Platz mündete. Sie war beinahe am Ziel angelangt. Richtiggehend verliebt blickte sie das gegenüber liegende Eckhaus an; nach den drei Wochen Urlaub, so sehr sie ihn genossen hatte, freute sie sich auf ihren Arbeitsplatz.
Mit Interesse registrierte sie den Umbau der öffentlichen Toiletten, deren Gestank als morgendliche Begrüßung sie stets genervt hatte. Die Blumen der beiden Kioske daneben erhielten endlich die Chance Frische auszustrahlen.
Während sie über den Zebrastreifen der Welskirchnerstraße düste, schmiedete sie Pläne für den Tag. Zuerst einmal würde sie die Fenster aufreißen, um die stickige Luft, die sich in ihrer Abwesenheit sicherlich angestaut hatte, mit dem Straßenstaub zu mischen. Währenddessen könnte sie auf eine Melange in das Kaffeehaus im gleichen Gebäude, dessen Name ihrem ähnelte, gehen. Oder sie nutzte die Zeit, um das Büro zu reinigen. Nachdem ihr der Staat keine Putzfrau mehr gönnte, blieb ihr diese Arbeit. Was ihr durchaus recht war. So konnte niemand herumschnüffeln. Ein Besuch im Kaffeehaus musste auf jeden Fall drin sein, entschied sie, gleich als Einstieg oder als Belohnung nach dem Putzen.
Danach auf den Hometrainer. Mindestens eine halbe Stunde. Dazu die CD mit Jelineks »Das Lebewohl«. Dann unter die Dusche, gefolgt von einem kleinen Espresso, mit der Caffettiera auf der Herdplatte gekocht.
Erst nach all diesen Vorbereitungen würde sich die Kommissarin an die Arbeit machen. Ein Stapel wartete auf Durchsicht. Für den Abend musste sie sich auch noch vorbereiten. Ja, es gab viel zu tun.
Trotzdem würde sie auf den Kaffeehausbesuch, den Hometrainer sowie einen Gruß an ihre »lieben« Kolleginnen nicht verzichten. Entschlossen betrat sie das Gebäude am Stubenring durch den versteckt gelegenen Eingang bei der Hausnummer 24b, ließ den Aufzugkäfig links liegen und sprintete die flachen Stufen in den vierten Stock hinauf. Ihre Dienstmansarde war eigentlich im sechsten Stock angesiedelt. Typischer Wiener Altbau, wo das Mezzanin und das Hochparterre als zusätzliche Etagen zwischen Erdgeschoss und erstem Stock dienten, aber nicht mitgezählt wurden.
Sie war kaum außer Atem gekommen, stellte sie zufrieden fest, während sie die Tür zu »ihrem« Büro aufsperrte. Der Tag konnte beginnen!