Buchtipp: "Die vierundfünfzigste Passagierin"

Lisa, die biedere Büroangestellte, fühlt sich ausgebeutet und unverstanden. Eine Dienstreise wird zum Sprungbrett für die vermeintliche Freiheit. Sie kehrt dem Arbeitsalltag den Rücken. Die Flucht aus dem öden Dasein birgt allerdings ungeahnte Gefahren. Und Mona, die Lisa für ihre Lebensretterin hält, ist der Aussteigerin auf der Spur.

"Die vierundfünfzigste Passagierin", der erste Roman von Franca Orsetti, erschienen im UHUDLA-Verlag.

480 Seiten, Farbeinband. Euro 17,80. Erhältlich im guten Fachhandel oder direkt beim UHUDLA (Bestellformular)

Freitag, 23. Januar 2009

Komissarin 6 - Kapitel 2

Ihre Kolleginnen hatten sich soeben über einen eingelangten Aktenstoß amüsiert: »Na, fleißig, unsere KB. Hat wieder ein paar Fälle gelöst!«
Frau Steiner, die in ihre Arbeit vertieft schien, hatte aufgesehen und gefragt: »Wären die Breugel-Akten nichts für unseren Lehrling?« Ich war zusammengezuckt. Lehrling! So tief war ich gesunken!
»Praktikant«, hatte Frau Schmeißer korrigiert. »Die KB-Akten für unseren René?« Sie überlegte, ihre beiden Mitstreiterinnen beim Kaffeekränzchen schwiegen. Frau Schmeißer war diejenige des Trios, die entschied. Statt zu einem Entschluss rang sie sich zu einer Frage durch: »Was soll er denn machen?«
»Das ist doch eine Schande, dass da nichts weiter geht«, hatte Frau Steiner losgepoltert. Die drei Kaffeedamen hatten die Köpfe gesenkt. Ein wenig schuldbewusst, schien mir. »Da haben wir eine eigene Abteilung für ungelöste Fälle, einzigartig in Europa, was sage ich, einzigartig auf der Welt, mit einer engagierten Frau, die sich bemüht, die zwanzig, dreißig Jahre alten Fälle zu lösen. Und wir schauen uns gar nicht an, wie sie diese aufgeklärt…«
»Wer behauptet, dass sie die Fälle immer lösen kann?« unterbrach Frau Kurz, die dritte in der Kaffeerunde.
»Aber nicht einmal das prüfen wir«, empörte sich Frau Steiner. »Wir wissen überhaupt nicht, wie viele Fälle Kommissarin Breugel wirklich aufklären konnte. Außerdem ist das nicht ihr Job. Kommissarin Breugel hat die Aufgabe, alte, ungelöste – oder sagen wir besser – offene Fälle zu bearbeiten, sie zu bewerten und zu einem Abschluss zu bringen.« Ihre Stimme klang plötzlich sehr förmlich. »Das heißt nicht unbedingt lösen. Oft können die Zeugen nicht gefunden werden, sind verstorben … In einem Fall genügt die Feststellung, dass der Fall wegen tempora passata, wegen der verstrichenen Zeit, nicht weiter bearbeitet werden kann.«
Ich hatte ungläubig das Gespräch verfolgt. »Alte Fälle?« erkundigte ich mich verwundert. Das hörte sich nach verstaubten (passte zum Archiv!) Geschichten an.
»Verjährte Fälle«, kicherte das Frühstücksei und schien wie die ihr namensgebende Figur in »Alice im Wunderland« zu hüpfen.
Sie erntete einen bösen Blick von Frau Steiner. »Fälle, wo keiner weitergemacht hat. Unterbrochen, weil was anderes dazwischen kam. Die Akte unvollständig, ohne Abschlussbericht, Protokolle fehlen, müssen erst von anderen Dienststellen eingeholt werden und so weiter. Es ist keine Ordnung drin.« Das war es, was die Steiner störte, dachte ich. »Das gehört aufgearbeitet. Nicht unbedingt die Fälle gelöst, aber formal muss es seine Richtigkeit haben. Damit wir die Akte ablegen können.« Erneut ein strenger, verweisender Blick in Richtung Meier, der ein Kichern entschlüpft war. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Frau Steiners Vorliebe, um nicht zu sagen, Wahn für eine korrekte Ablage war allseits bekannt. Hätte ich nicht fassungslos dem Gespräch gelauscht, wäre ich wahrscheinlich auch in unbändiges Lachen ausgebrochen.
Alexandra Steiner fuhr unberührt fort: »Da übernimmt und erledigt Kommissarin Breugel die Arbeit – und was machen wir? Schmeißen die Unterlagen ungeschaut wieder ins Archiv. Statt uns die Zeit zu nehmen und sie aktenmäßig zu erfassen.« Sie schüttelte bedauernd, nahezu entsetzt den Kopf. »Aber ich schaffe es nicht. Wenn wir das laufend gemacht hätten, wäre das eine Viertel-, halbe Stunde pro Tag gewesen. So ist es in den letzten sechs, sieben Jahren angewachsen.« Eine Viertel-, halbe Stunde pro Tag, überlegte ich, also realistisch eine Stunde für jemanden, der nicht die steinerische Effizienz besaß. Wieviel Zeit verbrachten ihre Kolleginnen täglich rund um die Kaffeemaschine?
Meine Gedanken waren bei den Worten »Archiv« und »erfassen« hängen geblieben. »Muss das elektronisch eingegeben werden?« fragte ich nach.
»Ja«, sagte Frau Schmeißer, die es an der Zeit fand, wieder einmal auf ihre Zuständigkeit für mich zu pochen. Nur einen Moment später kam ein klares »Nein« seitens der Steiner.
Frau Schmeißer zog sich zurück. »Na, Alexandra, du machst das schon mit dem Praktikanten.« Lächelnd wandte sie sich an ihre beiden Treuen: »Wie wär’s jetzt mit einem Kaffeetscherl nach all der Aufregung?« Auf deren zustimmendes Nicken wandte sich das Trio ihrer Lieblingsbeschäftigung zu und bot uns (der Steiner und mir) den Rücken.
Mir wurde mittlerweile erklärt, dass langfristig eine elektronische Eingabe geplant wäre, aber die Entscheidung darüber seit Jahren ausstünde. Es gäbe da einen Auslegungskonflikt, ob dies unter den Milleniumserlass fiele, zwischen dem Büro des Präsidenten und … Da unterbrach sich die Steiner, wollte mir nicht mehr verraten.
Sie zeigte mir ein Formular, das für jeden Akt anzulegen wäre. Darin sollten die Informationen zu dem Verbrechen (Name des/der Opfer, Art, Zeitpunkt und Ort der Straftat), dem Stand der damaligen Ermittlungen sowie die Bewertung durch Kommissarin Breugel eingetragen werden.
»Das muss ich aber nicht mit der Hand ausfüllen?« erkundigte ich mich vorsorglich. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Akten sich in den sieben Jahren angesammelt hatten. Hatte diese Kommissarin Breugel die Effizienz einer Steiner (dann, wehe mir!), oder durfte ich mich auf ein Arbeitstempo wie bei den Kaffeetanten einstellen? Selbst in einem solchen Fall: sieben Jahre sind eine lange Zeit!
Frau Steiner zeigte sich unerbittlich. Die elektronische Ablage wäre noch nicht beschlossen, daher müsste ich das Formular ausfüllen. Selbstverständlich mit der Hand.
Ich wehrte mich vorsorglich gegen den Arbeitsaufwand. »Ich kann doch das Formular im PC nachbauen«, schlug ich vor, »und fülle es elektronisch aus. Das drucke ich aus und lege es ordnungsgemäß ab.« Ich hoffte, mit diesen Schlüsselworten die ablagefanatische Kollegin zu überzeugen. »Jeder kann die Schrift gut lesen, viel besser, als wenn ich mit meiner Klaue schreibe.« Das war allerdings kein wirkungsvolles Argument, hatte ich bereits in wenigen Tage gelernt, denn es musste nur richtig abgelegt sein, ordentlich ausschauen – aber ob es lesbar, geschweige denn verständlich wäre, stand auf einem anderen Blatt. Ich fügte daher hinzu: »Außerdem haben Sie die Informationen auf diese Weise bereits im Computer. Falls die elektronische Erfassung kommen sollte, brauchen Sie die Daten nur zu überspielen.« Ob das Format passen würde, wagte ich zwar zu bezweifeln, da ich mit einem simplen Textverarbeitungsprogramm zu arbeiten plante, aber mich um die Zukunft der polizeilichen Archivarbeit zu sorgen, war wirklich nicht mein Bier (Kaffee wäre in dem Kontext das passendere Wort).
Alexandra Steiner vertrat stur ihren Standpunkt: »Noch ist die elektronische Erfassung nicht beschlossen, also dürfen die Daten nicht im PC erfasst werden.«
Ich wollte gerade darauf hinweisen, dass sämtliche Schriftstücke, Protokolle und so weiter am PC geschrieben und somit elektronisch erfasst wären, als sich plötzlich Frau Schmeißer umdrehte und bestimmte: »Natürlich soll der René das so machen, wie er vorschlägt. Wir werden nachher nicht nochmals alles eingeben.« Wollte die Schmeißer unter Beweis stellen, dass immer noch sie die Chefin der vier Damen vom Archiv war? Vielleicht hatte sie auch mit Schrecken an die Zeit in ferner Zukunft gedacht, wenn die elektronische Erfassung der »neu bewerteten« verjährten Fälle angeordnet würde, Alexandra Steiner längst im wohl verdienten Ruhestand wäre und sie, Schmeißer, sich ohne ihr Arbeitstier mit dem Problem herumschlagen müsste.
Frau Steiner hatte sich schmollend gefügt und angeboten, mich am Nachmittag (»Ich muss vorher noch ein paar dringende Aufgaben erledigen.«) in die Bearbeitung der Breugel-Akten einzuführen.
Ich hatte die Weiten des mir bekannten Archivs gefürchtet, aber Frau Steiner führte mich in einen Nebenraum der Aktenfluchten, durch eine unauffällige Tür getrennt. Der Raum selbst war nicht übermäßig groß, maximal zwanzig Quadratmeter. Es reichte. Auf dem Boden stapelten sich Berge von Akten, an einigen Stellen – wo die Stöße umgefallen waren – ein richtiggehendes Gebirge, dessen Kamm entlang meine Augen entsetzt eine Höhenwanderung absolvierten. »Das kann doch nicht ihr Ernst sein!« dachte ich fassungslos. Zu meinem Glück erfuhr ich, dass dies alles alte Fälle waren, die erst von der Kommissarin Breugel zu bearbeiten wären. Da aber öffnete Frau Steiner einen wuchtigen Kasten, zum Bersten gefüllt. »Das sind die bewerteten Akten, bereit zur Ablage. Das ist Ihr Job.«
»Da drin sind sie eh schon abgelegt.« Zaghafter Widerspruch meinerseits.
Frau Steiner lachte, als hätte ich einen guten Witz erzählt. Mit ernster, fast ein wenig enttäuschter Miene (dass ich noch immer nicht die Bedeutung der Ablage erkannt hatte) wies sie mich darauf hin, dass die Akten zwar in den Kasten gelegt, aber nicht abgelegt wären. Ich wandte mich dezent ab, um vor der so bemühten Mitarbeiterin der polizeilichen Verwaltung mein Grinsen zu verbergen. Meine Aufgabe bestände darin, wurde ich aufgeklärt, die Akten einzeln herauszunehmen – sie abzustauben, warf ich spöttisch ein, was Frau Steiner allerdings als einen konstruktiven Vorschlag wertete und gleich in die Akten-SOP aufnahm –, sie zu »prüfen« (also durchzulesen) und in einem eigenen Ordner die Bewertung der Kommissarin Breugel sowie die von ihr im Laufe der Recherche erstellten und neu aufgenommenen Schriftstücke abzulegen. Die alten, ursprünglichen Unterlagen, die derzeit noch einen Teil der Gesamtakte bildeten, sollte ich entweder in den Weiten des übrigen Archivs einordnen oder, falls sie anderen Dienstposten, etwa der Gendarmarie (die es damals noch gab), gehörten, diesen zu deren ordnungsmäßiger Ablage übermitteln.
»Die wearn a Freid hoam, wenn’s des kriegn«, rutschte mir heraus.
Frau Steiner entging die Spitze. »So können die ihre Archive der fünfziger und sechziger Jahre abschließen«, antwortete sie völlig ungerührt.
Auf diese Weise, wandte ich ein, ahnend, dass das Damoklesschwert nicht an mir vorüberginge, würde ja erst wieder die Akte in lauter Einzelteile aufgedröselt. Auch darauf wusste die Meisterin der Ablage eine Antwort: Der von der Kommissarin bewerteten Akte sollte ein Blatt beigelegt werden, auf dem sämtliche Beilagen (mit Aktenzahl, falls vorhanden, versteht sich) sowie deren »Verwahrungsort« aufgelistet wären.
»Das ist aber ein enormer Aufwand«, wagte ich einen letzten Versuch, diese absolut hirnvertrottelte Arbeit abzuwenden. Keine Chance. Ich durfte mir Zeit lassen (also konnte ich wenigstens ein, zwei Stunden in die Kantine abhauen und behaupten, ich hätte in diesem Sonderarchiv gewerkt), aber ich sollte die Aufgabe ordentlich erledigen, wurde mir auf den Weg mitgegeben.
Wahrscheinlich hatte selbst die unerschütterliche Alexandra Steiner mitbekommen, dass sich meine Begeisterung über die neue Verantwortung, die sie mir anvertraut hatte, äußerst in Grenzen hielt. »Sie werden sehen, die Bewertungen von Kommissarin Breugel sind spannend zu lesen«, versprach sie, um mich aufzumuntern.
Das aus dem Mund einer Beamtin zu hören, deren »Leidenschaft« der Ablage galt, baute mich nicht sonderlich auf. Um die Arbeit ein wenig hinauszuzögern, erkundigte ich mich: »Wo sitzt eigentlich diese Kommissarin Breugel?«
Ich bildete mir ein, ein längeres Zögern wahrgenommen zu haben, bevor Frau Steiner Auskunft gab.