Buchtipp: "Die vierundfünfzigste Passagierin"

Lisa, die biedere Büroangestellte, fühlt sich ausgebeutet und unverstanden. Eine Dienstreise wird zum Sprungbrett für die vermeintliche Freiheit. Sie kehrt dem Arbeitsalltag den Rücken. Die Flucht aus dem öden Dasein birgt allerdings ungeahnte Gefahren. Und Mona, die Lisa für ihre Lebensretterin hält, ist der Aussteigerin auf der Spur.

"Die vierundfünfzigste Passagierin", der erste Roman von Franca Orsetti, erschienen im UHUDLA-Verlag.

480 Seiten, Farbeinband. Euro 17,80. Erhältlich im guten Fachhandel oder direkt beim UHUDLA (Bestellformular)

Montag, 5. Januar 2009

Roman "Die vierundfünfzigste Passagierin" - Leseprobe / 1

Verzweifelt blickte sie nun auf die Uhr im City Air Terminal. Die letzte Ziffer sprang gerade von einer Drei auf eine Vier um. Sechs Uhr vierunddreißig. Der Bus um sechs Uhr zwanzig, schloss sie, war tatsächlich - wie sie es sich eigentlich gewünscht hatte - verspätet abgefahren. Wäre das Missgeschick mit dem Toiletteköfferchen nicht passiert, hätte sie ihn noch erreicht.
»Eine seltsame Frau«, überlegte sie, »ob sie wirklich mit Absicht meinen Koffer geöffnet hat? Sie hat mir doch geholfen.« Mona stand mit beiden Beinen fest am Boden der Realität, doch an diesem Morgen, als sie verloren im City Air Terminal wartete, fühlte sie sich, zu ihrer eigenen Überraschung, in den Bann der Mystik gezogen. Irgendetwas Fremdes, Unbeschreibbares, Unbegreifliches schien in ihr Leben einzugreifen.
Ungeduldig hielt Mona nach dem Bus Ausschau. Sie hatte ihren ersten Impuls, sich an einen der herumstehenden Taxifahrer zu wenden, unterdrückt und beschlossen, den nächsten Flughafenbus zu nehmen. Sie wollte sich (oder Nick?) beweisen, dass sie auch öffentlich hinaus käme. Wozu wäre sonst die ganze Aufregung gut gewesen?
Trotzdem wurde Mona immer nervöser. Die zur Faust geballte linke Hand tat ihr von der Anspannung weh, aber sie machte sich nicht die Mühe die Finger auszustrecken. Sie zückte das Zigarettenpäckchen. In dem Moment, in dem sie sich die Tschick anzündete, würde (sagte sie sich) der Bus um die Ecke biegen. Ihr Pakt mit dem Schicksal ging jedoch nicht auf.
Wo blieb nur der Bus? Sonst stand er doch immer schon fünf Minuten vor der Abfahrt bereit. Gewaltsam versuchte sie den Gedanken beiseite zu drängen, dass eine Verkehrsstörung den Bus verspäten ließ. Wenn schon der Bus um sechs Uhr zwanzig mit Verspätung abgefahren war, dann vielleicht auch jener um sechs Uhr vierzig?
Selbst wenn der Bus verspätet wegführe, überlegte sie, käme sie noch vor oder spätestens um sieben Uhr am Flughafen an. Eine halbe Stunde vor Abflug. Das müsste für einen Flug nach Florenz reichen, redete sie sich ein.
Die Uhr sprang von sechs Uhr vierzig auf einundvierzig. Kein Bus in Sicht.
Sie haderte mit sich selbst. Schließlich wandte sie sich an einen Taxifahrer (nur um eine Auskunft einzuholen, sagte sie sich - sie würde doch kein Taxi nehmen, nachdem sie so lange ausgeharrt hatte). »Warum kommt denn der Bus um sechs Uhr vierzig nicht?«
Ihre Frage wurde mit einem Lachen quittiert. »Es gibt keinen Bus um sechs Uhr vierzig, gnä' Frau. Der nächste geht um sechs fufzig.«
Sie erschrak. »Aber die Busse gehen doch alle zwanzig Minuten…«
»Ja, Madam«, stimmte ihr der Taxifahrer zu, »um zehn nach, um dreißig und um fufzig. Ab sechs Uhr dreißig. Vorher fahren sie alle halben Stunden, ab vier Uhr dreißig.«
»Der Bus um sechs Uhr zwanzig«, setzte Mona murmelnd zur Widerrede an und wusste in dem Moment, dass sie einen Fehler begangen hatte. Warum hatte sie den Fahrplan nicht überprüft? Warum hatte sie sich auf ihre Erinnerung verlassen? Warum…?