Buchtipp: "Die vierundfünfzigste Passagierin"

Lisa, die biedere Büroangestellte, fühlt sich ausgebeutet und unverstanden. Eine Dienstreise wird zum Sprungbrett für die vermeintliche Freiheit. Sie kehrt dem Arbeitsalltag den Rücken. Die Flucht aus dem öden Dasein birgt allerdings ungeahnte Gefahren. Und Mona, die Lisa für ihre Lebensretterin hält, ist der Aussteigerin auf der Spur.

"Die vierundfünfzigste Passagierin", der erste Roman von Franca Orsetti, erschienen im UHUDLA-Verlag.

480 Seiten, Farbeinband. Euro 17,80. Erhältlich im guten Fachhandel oder direkt beim UHUDLA (Bestellformular)

Samstag, 24. Januar 2009

Kommissarin 7 - Kapitel 2

Kommissarin Breugel wäre eine sehr tüchtige, effiziente Ermittlerin, hätte früher in der Mordkommission gearbeitet, dann beim Betrugsdezernat – hier unterbrach sich meine Gesprächspartnerin unvermittelt und blickte betroffen zu Boden –, bis vor etwa sieben Jahren die »Abteilung für die Aufklärung ungelöster Fälle« gegründet und der Kommissarin die Leitung übertragen worden war. Wie groß denn die Abteilung wäre? Na ja, Frau Ablage druckste herum, von wegen die Polizei hätte kein Geld, etcetera, etcetera, und wenn so was Einzigartiges in Europa, also gut, die Abteilung wäre eher bescheiden ausgestattet und bestünde ausschließlich aus deren Leiterin, der Kommissarin Breugel. Eine Sekretärin gäbe es auch, Teilzeit. Außerdem war, erfuhr ich, die Abteilung nicht in dem Polizeigebäude untergebracht.
Sie hatte mich neugierig gemacht. Das roch ja nur so nach einer schiefen Geschichte, als hätten sie da wen loswerden wollen, wegloben oder so. Wahrscheinlich würde mir die Steiner nicht mehr verraten, daher schwieg ich und beschloss, Augen und Ohren offen zu halten und an gegebener Stelle Fragen zu stellen.
Dass die Kommissarin Breugel gleich der Steiner ein Arbeitstier war, erkannte ich in Kürze, als ich mir die ersten Akten, im Jahr 1996 (nach)bearbeitet und übermittelt, zu Gemüte führte (diese waren noch ganz gut auszumachen, ganz links im Kasten – später wurde alles nur mehr hineingeworfen). Sie musste wie eine Irre geschuftet haben. Sie hatte sich in die alten (veralteten, würde ich meinen) Fälle vertieft, hatte bislang unbekannte Zeugen ausgeforscht (zum Teil leider mit Wohnortadresse Friedhof – doch selbst das wurde präzise angeführt) und mit noch lebenden Gespräche geführt, manchmal alte (Bau- oder Flächenwidmungs-)Pläne ausgehoben, unzählige Akten von anderen Dienststellen angefordert (was das für mich bedeutete, war auch klar!), Orte des Verbrechens persönlich aufgesucht, Einsicht in alte Geschäftsberichte genommen, diverse Hypothesen entwickelt, bevor sie endlich zu ihrer Bewertung kam.
Nicht nur, dass sie jeden Fall ausführlich behandelte, sie hatte auch unglaublich viele Akten in vergleichsweise kurzer Zeit abgearbeitet. Wollte sie ihre Chefs überzeugen, wie tüchtig sie war? Oder wollte sie sich selbst ihre Effizienz beweisen?
Nach vier, fünf Akten reichte es mir. Die Bewertungen wären eigentlich ganz interessant zu lesen, wären sie nicht so brav, unter Berücksichtigung sämtlicher Eventualitäten, formuliert worden. Aber diese dämliche Ablage, die Auflistung sämtlicher Akten! Ich verfluchte die Steiner und überlegte, ob ich die Liste einfach unter den Tisch fallen lassen konnte. Leider kam sie regelmäßig vorbei, um sich zu erkundigen, wie es mir bei der Arbeit ging. Ich wusste Bescheid: In Wirklichkeit wollte sie mich kontrollieren. Sie stand hinter mir, griff ungefragt nach Formularen, die ich ausgefüllt hatte, las diese mit zusammengepressten Lippen durch und strich mit einem Rotstift Tippfehler an. So was von zwänglerisch!
Ich konnte so nicht weitermachen. Daher entschied ich mich, meine Vorgangsweise zu ändern. Ich wollte mir zunächst einen Überblick verschaffen, wieviel Arbeit mich erwartete. Ich nutzte die Gunst des Augenblicks (beziehungsweise der nächsten zwei, drei Stunden, in denen Feldwebel Steiner bei einem Arzt weilte), schob in dem Sonder-Archiv das sich weit erstreckende Anden-Gebirge an zu bearbeitenden Akten enger zusammen, so dass es mehr an den Himalaya erinnerte, und räumte den Kasten aus. Ich legte die Akten am Boden auf, gestapelt nach dem Jahr der Bearbeitung. 1996 war ein Wahnsinn, obwohl die ersten bewerteten Fälle erst nach dem Sommer eingetroffen waren. 1997 war um nichts besser. Für diese beiden Jahre benötigte ich mehrere Stapel am Boden. Ich dachte schon daran aufzugeben, als mich ein Umstand stutzig machte. Ich hatte bereits ein gutes Drittel des Kastens geleert und ausschließlich Akten zu den Jahren ´96, ´97 und ein wenig zu ´98 identifiziert. In der Hoffnung, dass der Arbeitseifer der Kommissarin im Laufe der Zeit nachgelassen hatte, aktivierte ich den Restbestand meiner Motivation und fuhr fort.
Es zahlte sich aus. Als ich endlich, nach getaner Arbeit, mit wundem Rücken, vor meinem Werk stand, zeigte sich ein aufschlussreiches Muster. Der Kommissarin war tatsächlich die Luft ausgegangen. Nach dem Boom der ersten drei Jahre (wobei, wie eine detailliertere Analyse zeigte, sie zwischen September und Dezember 1998 keinen einzigen Fall abgeschlossen hatte) wurden im Jahr 1999 lediglich drei Akten übermittelt und im Jahr darauf immerhin sieben. Waren die etwa woanders hingeschickt worden, fragte ich mich. Diese Überlegung würde ich sicher nicht laut äußern, denn für mich war diese Entwicklung gut. Außerdem bewies mir ein Blick in die Akten jener Jahre, dass die Kommissarin nicht mehr so recht bei der Sache war. Extrem kurze Bewertungen (»Nach Prüfung der Informationen komme ich zu dem Schluss, dass dieser Fall als unaufklärbar abgeschlossen werden muss.«), keine zusätzlichen Dokumente wie Protokolle oder Lagepläne. Nichts. Es schien, als hätte die Kommissarin darauf verzichtet Ermittlungen durchzuführen.
Ab 2001 nahm die Anzahl der übermittelten Akten wieder zu, Tendenz steigend. Die Bewertungen wurden ausführlicher, und ich erinnere mich, beim Überfliegen gedacht zu haben, die wirkten auf mich mehr wie ein literarischer Text als Akten der öffentlichen Verwaltung. Ich ertappte mich dabei in eine Bewertung vertieft zu sein, als würde ich einen Krimi lesen. Deshalb beschloss ich, zunächst die ab 2001 übermittelten Fälle zu bearbeiten. Erstens war dies eine überschaubare Zahl, und zweitens schienen die interessanter. Ich räumte die Akten, welche im vorangegangenen Jahrhundert von der Kommissarin Breugel geprüft worden waren, wieder in den Kasten. Würde mich die Steiner zu den von mir gebildteten Stapeln am Boden befragen, würde ich ihr mit freundlichem Lächeln erklären, ich hätte mir ein paar Akten herausgelegt, die ich als nächstes erfassen wollte. Ich musste ihr ja nicht meine Strategie auf die Nase binden (sollte sie sich nach meinem Abgang mit der öden Altlast herumschlagen!), und im Übrigen hatte mir niemand angeschaftt, chronologisch vorzugehen.
In dieser Entscheidung sah ich mich am nächsten Tag bestärkt, als, kaum dass ich am Morgen meinen Arbeitsplatz erreicht hatte (sie hatten mir einen schmalen Computertisch mit PC in eine Ecke gestellt), ein Bürobote erschien und einen braunen Umschlag der Hauspost abgab. Frau Schmeißer, ein wenig verärgert, dass sie aus der Zeremonie der Kaffeezubereitung heraus gerissen wurde, warf einen desinteressierten Blick darauf. »Wieder einmal ein lieber Gruß von unserer hochgeschätzten Ka-Be«, stellte sie mit einem, wie mir schien, leicht verächtlichen Unterton fest.
»Sie hat doch erst vor ein paar Tagen was geschickt«, wunderte sich das Frühstücksei, »so fleißig.« Sie kuderte.
Die dritte im Bunde traf einen praktischen Entschluss. »Das können wir dem René geben. Hast gleich was zu tun, in der Früh.«
Ich ergriff den Umschlag und sagte in Richtung von Frau Steiner, die natürlich (wie könnte es anders sein!) in die Arbeit vertieft war: »Ich kann ja diese Akte zwischendurch einschieben, es muss nicht chronologisch sein.«
An ihrer Stelle antwortete Frau Schmeißer: »Selbstverständlich. Wichtig ist nur, dass es schlussendlich chronologisch abgelegt ist, aber in welcher Reihenfolge es bearbeitet wird, ist egal. Hauptsache, ein Teil wird mal abgearbeitet.« Das klang beinahe, als glaubte sie ohnehin nicht daran, dass die Ablage dieser alten Akten je abgeschlossen werden könnte.
Noch ein wenig verschlafen öffnete ich die Akte »Stanislav Gomm CoKG«. Sie war ziemlich dick. Das meiste davon alte Protokolle, Schriftstücke. Die Bewertung war knapp ausgefallen; eine Beilage, ein Protokoll mit einer aufgetriebenen Zeugin von anno dazumals, war beigefügt.
Nachdenklich beobachtete ich die drei Kaffeetanten. Meine Gedanken schweiften ab. Nachdem ich das Gespräch, das die Kommissarin kürzlich mit Berta Schmalbaum geführt hatte, gelesen hatte, fühlte ich mich unsicher, ertappt. Was diesem Reinhard beziehungsweise Reni (diese Namensähnlichkeit mit René machte mich stutzig) passiert war, glich so sehr meiner eigenen Geschichte mit Sandra. Was für ein erstaunlicher Zufall!