Buchtipp: "Die vierundfünfzigste Passagierin"

Lisa, die biedere Büroangestellte, fühlt sich ausgebeutet und unverstanden. Eine Dienstreise wird zum Sprungbrett für die vermeintliche Freiheit. Sie kehrt dem Arbeitsalltag den Rücken. Die Flucht aus dem öden Dasein birgt allerdings ungeahnte Gefahren. Und Mona, die Lisa für ihre Lebensretterin hält, ist der Aussteigerin auf der Spur.

"Die vierundfünfzigste Passagierin", der erste Roman von Franca Orsetti, erschienen im UHUDLA-Verlag.

480 Seiten, Farbeinband. Euro 17,80. Erhältlich im guten Fachhandel oder direkt beim UHUDLA (Bestellformular)

Sonntag, 11. Januar 2009

Kommissarin 3 - Kapitel 1

Sie hieß Sandra, war neunzehn Jahre jung (behauptete sie jedenfalls), hatte traumhafte Beine, langes Haar und einen furchtbar frechen Blick aus ihren grünen Augen. Ich hatte sie vor dem Kaffeeautomaten getroffen. Um genau zu sein: Bereits einen Monat zuvor hatte ich sie das Gebäude verlassen gesehen, sie flatterte davon wie ein bunter Schmetterling, der die Freiheit suchte. Als ich sie dann vor dem Kaffeeautomaten wieder entdeckte, wusste ich, dies wäre die Chance, um meine Netze auszuwerfen. Noch dazu, als ich merkte, dass sie mit dem Gerät kämpfte. Bevor ich um die Ecke gebogen war (und sie sich unbeobachtet glaubte), war sie gerade dazu übergegangen, ihre Fäuste durch Schläge gegen die Maschine zu malträtieren.
Da war ich auf den Plan getreten: Cool schlenderte ich zu ihr, trat mit dem Fuß gegen den Automaten (das war nämlich der Trick: ich kannte zwar nicht den Wirkungsmechanismus, aber Hauptsache, es funktionierte), und ein Strahl Kaffee schoß in den Becher. Selbstbewusst nahm ich den Plastikbecher aus der Halterung und reichte ihn ihr mit einem Lächeln. Ich schmiss die gefälschten Münzen, welche mir meine Kollegen in beachtlicher Menge zur Verfügung gestellt hatten, in den Schaft und begann, während ich auf den Kaffee wartete, lässig ein Gespräch mit ihr.
Sie erzählte mir über sich: Sie würde im Archiv arbeiten. Im Archiv? Das sei eine Art Mischung aus Dokumentationszentrum und Kanzlei, führte sie aus. Ich konnte mir nichts darunter vorstellen. Egal. Auf mein geschicktes Ausfragen erklärte sie mir sogar den Weg ins Archiv. Falls ich mal vorbei schauen wollte, meinte sie mit kokettem Augenaufschlag, schnappte ihre ziemlich voll gepackte Handtasche und ging. Zurück ins Archiv, vermutete ich Esel. Warum sie beim Weg zum Kaffeeautomaten im Haus eine Übergangsjacke trug, stellte ich damals nicht in Frage.
Nein, ich würde sie nicht besuchen, beschloss ich. Ich hatte eine viel bessere Idee, mit der ich sie überraschen wollte. Ich würde mich ins Archiv versetzen lassen. Still und heimlich stellte ich den Antrag, dem zu meiner Verwunderung nach nur zehn Tagen stattgegeben wurde. Am davon folgenden Morgen könnte ich bereits anfangen. Die Leitung freute sich über mein Engagement, verschiedene Dienststellen kennenlernen zu wollen. Meine Kumpels in der Kopierstraße waren hingegen ein wenig enttäuscht, dass ich sie verließ. In den zwei gemeinsamen Monaten hatten wir uns als gutes Team eingespielt. Ich deutete das wahre Motiv hinter meiner Versetzung an, sie grinsten verständnisvoll und wünschten mir viel Glück.
Schon um zehn vor acht meldete ich an meiner neuen Arbeitsstätte. Ich war nicht der Erste. Drei Damen waren rund um eine Kaffeemaschine versammelt und kommentierten eifrig den Fluss der braunen Brühe durch den Filter. Lauter Frauen, so ab fünfzig, in Kostümchen und mit dauergewellter Frisur, die eines wöchentlichen Besuchs bei ihrem »Coiffeur« bedurfte. Solche Arbeitskolleginnen hatten mir gerade noch gefehlt! Dagegen waren die Hackler im Keller Gold wert. Während mir erste Zweifel an der Klugheit meiner Entscheidung aufkamen, zählte ich unauffällig die Arbeitsplätze in dem Raum. Vier Tische. Erleichtert atmete ich auf.
»Sie müssen der Herr König sein«, wurde ich in meinen Gedanken unterbrochen. »Unser Praktikant.«
Ich blickte umher: Wer außer mir trat noch den Dienst in dieser Abteilung an? Ich konnte aber niemanden entdecken.
Dreistimmiges helles Lachen hallte mir entgegen. Sie hatten mich gemeint. »Guten Tag, ich bin René Kaiser«, stellte ich mich vor und meinen Namen richtig. Fuhr mit der Klarstellung fort, dass ich kein Praktikant wäre, sondern dieses Semester hier arbeitete und einige Abteilungen kennenlernen wollte.
»Sehr löblich«, zwitscherte Frau Schmeißer, die – wie ich innerhalb kurzer Zeit begriff – die Chefin des vierköpfigen Archivteams war.
»Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was an Kilometern verstaubten, vergilbten Akten so interessant ist«, ergänzte ihre Kollegin, Frau Meier »mit e i. Wie das Frühstückei«. Ich sah mich um. In dem hellen, freundlichen Raum entdeckte ich keinerlei Akten, gechweige denn verstaubte oder vergilbte Papiere. Die Tische waren erstaunlich leer. Nur die Handtaschen der Damen, daneben jeweils ein witziges Handy, waren darauf abgelegt. Die Computer hatten eigene Tische gewährt bekommen. Meine Kumpel würden sich in ihren Vorurteilen über die »Bürotussies« bestätigt fühlen.
Das eigentliche Archiv bekam ich noch am gleichen Vormittag vorgeführt. Drei Türen weiter betrat man eine Zimmerflucht, fensterlos, in welcher der Staub in der stickigen Luft mit freiem Auge zu sehen war. »Wir haben Akten, die bis zur Märzrevolution zurückreichen«, verkündete die »Meier mit e i« mit – wie es mir schien – einer Spur Stolz. Ich kramte in meinen Geschichtskenntnissen. Die Märzrevolution … Da war ja mein Ur-Ur-Großvater noch ein Kind gewesen – oder war dies mein Ur-Ur-Ur-Großvater? Nun aber schrieb ein Erlass die elektronische Erfassung aller Akten vor. »Leider kommen wir vor lauter anderer Arbeit nicht dazu.« Mir schwante Übles. Ich blickte auf den Computer im Archiv, den das Frühstücksei aus Demonstrationszwecken eingeschaltet hat, grüne Schrift vor schwarzem Hintergrund, ein Modell, das selbst in einem Industriemuseum nicht mehr genommen würde, aber immerhin, um was Positives zu sagen, zu der archivarischen Umgebung passte er.
»Bis wann?« hauchte ich. Plötzlich fühlte ich mich schwach. Eine wunderbare Aufgabe für einen Praktikanten oder einen, den sie konsequent für einen solchen hielten.
»Was?« Das Ei blickte mich verwundert an. »Ach so, die Frist für die elektronische Erfassung. Eigentlich zwei Jahre.« Sie kicherte. Mir schwindelte.
»Im November 1999 hat so ein Klugscheißer von einem Jungjuristen« – ich zuckte zusammen – »den Erlasstext verfasst. Um zu zeigen, wie gescheit er doch ist, hat er kein Datum reingeschrieben, sondern stattdessen: Am Ende dieses Jahrtausends muss die Eingabe abgeschlossen sein. Damit meinte er: Ende zweitausend. Er wollte den Leuten beibringen, dass das Millenium Ende zweitausend, nicht Ende neunzehnneunundneunzig aus ist.« Sie kuderte erneut. »Humpty, Dumpty«, schoss mir durch den Kopf. »Nur hat es eine Weile gedauert, bis der Erlass alle zuständigen Stellen im Haus passiert hat. So wurde er erst im April 2001 unterzeichnet. Nun haben wir das nächste Jahrtausend Zeit.« Ich atmete erleichtert auf und bekam prompt einen Hustenanfall. Zuviel stickige Luft.
»Wir haben genug mit unserer laufenden Arbeit zu tun«, führte das Ei mit M am Anfang und ER am Ende aus (auch wenn mir in den ersten Stunden noch nicht klar geworden war, worin diese – abgesehen der Analyse der Filterkaffeemaschine und der Organisation eines gemeinsamen Frühstückeinkaufs – genau bestand). »Wenn Sie uns bei diesem Jahrhundert-, nein, was sage ich, Jahrtausendprojekt unterstützen wollen ...«
Ich begann mich vorsorglich zu wehren (irgendwas musste ich doch im Keller gelernt haben): »Wissen Sie, ich leide unter einer Stauballergie ...«
Meine Begleiterin sprach unberührt weiter: »Die Einzige, die sich darum kümmert, ist Alexandra, also Frau Steiner, auf deren Tisch Sie derzeit sitzen.« Ich stand zwar im Moment, und auf einen Tisch hatte ich mich auch nicht gesetzt. Aber ich wusste, was sie meinte. Den vierten Arbeitsplatz. Freche grüne Augen lachten mich im Geiste an. Der Gedanke an sie machte sogar die Arbeit in dem staubigen Archiv zu einer prickelnden Herausforderung. Ich bot an, Frau Steiner, sobald diese nach ihrem Krankstand zurück käme, im Archiv zu helfen. Ein wenig hegte ich die Sorge, ob ich in dieser stickigen Umgebung meinen Charme hervor kehren konnte. Wütend dachte ich an das Foto eines (solarium-)gebräunten, durchtrainierten Mannes auf ihrem Schreibtisch. Der war längst über dreißig. Viel zu alt für sie!
So vergingen ein paar Tage. Wir warteten auf Frau Alexandra Steiner (für mich: Sandra). Ich wusste nicht wirklich, was ich tun sollte, und die netten Damen hatten auch keinen Schimmer, was sie mir von ihrer scheinbar so umfangreichen und komplexen Arbeit abgeben könnten. Also beschäftigte ich mich damit, mich mit dem Computer (nicht das Museumsstück vom Archiv, sondern das Standardmodell auf Sandras Schreibtisch) »vertraut zu machen«. Zum Glück waren die gängigen Spiele des Softwarepakets (die »Fenster« des Onkel Bill aus Amerika) drauf. Dass ich erst um neun Uhr (ich hatte nicht gewagt, zehn Uhr vorzuschlagen) meinen (inoffiziellen) Dienstbeginn hätte, kam leider bei den Damen keinesfalls in Frage. Dem konnten sie nicht zustimmen, obwohl sie mir, nicht zuletzt wegen der »reparierten« Kaffeemaschine, wohlgesonnen waren. Ich hatte einmal die polizeiliche Kaffeemaschine mitgenommen, sie bei einem WG-Festl zu fortgeschrittener Stunde heimlich durch eine andere ausgetauscht (ich wusste auf Grund zeitweiliger Übernachtungen in der Wohnung, dass es genau die gleiche Marke war) und das Ergebniss meiner »Reparaturarbeiten« am nächsten Morgen stolz präsentiert.
Endlich kam der große Tag. Als ich morgens um kurz vor halb neun müde den Gang entlang trottete, verzog Humpty Dumpty gar nicht einmal das Gesicht wegen meiner (üblichen) Verspätung, sondern flötete mir zu. »Frau Steiner ist da!« Erschreckt fragte ich mich, ob womöglich schon alle mitbekommen hatten, wie sehnsüchtig ich Sandra erwartete.
Ich richtete mich auf, zauberte ein strahlendes Lächeln auf mein Gesicht und betrat das Zimmer. Auf »meinem« Platz saß eine grauhaarige, ältere Dame. Ich musste sie fassungslos angestarrt haben. Hinter mir, bildete ich mir ein, Sandras (schadenfrohes?) Kichern zu hören.
Bevor ich mich von meinem Schock erholen konnte, hörte ich Frau Schmeißers Stimme: »Herr Kaiser, darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen. Sie ist kurz auf Besuch hier, muss dann weiter auf die Uni, zur Vorlesung.« Mütterlicher Stolz schwang mit. »René Kaiser – meine Tochter Sandra.« Ich drehte mich um und blickte in freche grüne Augen.