Buchtipp: "Die vierundfünfzigste Passagierin"

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"Die vierundfünfzigste Passagierin", der erste Roman von Franca Orsetti, erschienen im UHUDLA-Verlag.

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Montag, 16. Februar 2009

Kommissarin 16 - Zwischenkapitel

Akte II-1962.RBA 23.691-9435, Post Kirchberg a.d.Kr.
Bewertung
Nach eingehender Prüfung des Falles unterstütze ich die nicht weiter verfolgte Hypothese, dass Herr Karl (»Charly«) Wittinger den Raubüberfall auf die Post in Kirchberg a.d.Kr. begangen hat.
Am 1. Juni 1962 wurde die Post in Kirchberg a.d.Kr. von einem, wie es schien, bewaffneten Täter überfallen. Es wurden 320 Schilling erbeutet. Der Täter, der ein Zoro-Kostüm trug und dessen Gesicht hinter einer Maske versteckt war, konnte unbeschadet mit einem Motorrad fliehen. Bei dem Überfall selbst wurde niemand verletzt; bei der Flucht missachtete der Posträuber die Verkehrsvorschriften und raste bei Rot über sämtliche (in Summe drei) Kreuzungen von Kirchberg. Fräulein Maria Reiher, die gerade die Straße überqueren wollte, sprang zurück und verknöchelte sich. Sie musste eine Woche lang den Fuß hoch gelagert halten; sie war das einzige Opfer des Überfalls, das zu Schaden kam. Die Pistole wurde drei Straßen weiter gefunden; es handelte sich um eine Wasserspritzpistole für Kinder.
Bald manifestierte sich der Verdacht, dass Herr Karl Wittinger, »Charly« genannt, Jahrgang 1942, der gesuchte Posträuber sein könnte. Zum einen trug er im gleichen Jahr am Faschingsball in der Pfarre ein Zoro-Kostüm, zum anderen bemerkte Fräulein Reiher beim Fluchtfahrzeug die Ähnlichkeit mit dem Motorrad des Herrn Wittinger.
Herr Wittinger gab allerdings an, zur fraglichen Zeit (der Überfall fand um neun Uhr sieben statt) bei einem Kunden in dessen Haus (etwa 40 Kilometer von Kirchberg entfernt) gearbeitet zu haben (Herr Wittinger ist Installateur). Das Alibi wurde geprüft und bestätigt. Herr Wittinger war von acht Uhr dreißig bis zirka Mittag bei Herrn Doktor Ernst und Frau Erika Radebrecht; letztere bestätigte seine durchgängige Präsenz im Haus. An der Aussage der Gattin des Herrn Doktor Radebrecht, eines bekannten Tierarztes und Präsidenten der regionalen Tierärztekammer, wurde nicht gezweifelt, weil deren Ehrenhaftigkeit außer Frage steht. Allerdings wunderte sich Frau Radebrecht, warum der Installateur bereits um halb neun erschien, obwohl er für neun Uhr bestellt war. Außerdem legte er eine derart miserable Arbeit vor, dass er eine Woche später wiederkommen musste. Verdächtig weiters: Herr Wittinger weigerte sich, Herrn Doktor Radebrechts Ankunft zu Mittag abzuwarten, der auf Anraten der Tierarztgattin das riesige Muttermal auf seiner rechten Wange untersuchen sollte.
Auffällig war darüber hinaus, dass Herr Alfred Kohlbauer, als »bester Kumpel« vom Charly ortsbekannt, am Tag des Überfalls an seinem Arbeitsplatz in der Post fehlte. Es bestand die Überlegung, ob hier Komplizenschaft bestünde oder ob gar Herr Kohlbauer, im Kostüm seines Freundes und mit dessen Motorrad, den Überfall begangen hätte. Herr Kohlbauer wurde aber von der Liste der Verdächtigen gestrichen, weil der Posträuber laut und deutlich bei dem Überfall herum geschrien hatte – eine Leistung, die niemand in Kirchberg Herrn Kohlbauer, einem berüchtigten Stotterer, zugetraut hätte.
Die Untersuchungen konzentrierten sich auf den Verdächtigen Karl Wittinger. Da ihm aber nichts nachgewiesen werden konnte, wurden die Ermittlungen schließlich eingestellt. Karl Wittinger kam 1967 bei einem Motorradunfall ums Leben.
Als Kommissarin zur Aufklärung ungelöster Fälle erlaubte ich mir, meiner Verwunderung Ausdruck zu verleihen, dass die Akte II-1962.RBA 23.691-9435, Post Kirchberg a.d.Kr. meiner Abteilung zur Bearbeitung übermittelt wurde, obwohl dieser Fall als abgeschlossen gilt. Da meine diesbezüglichen Anfragen bei meinem Vorgesetzten, Herrn Oberstudienrat a. D. DDr. Schleicher (Schreiben vom 12. Dezember 1996; Zl. 3-1996/II-1962.RBA 23.691-943; Schreiben vom 4. Februar 1997, Zl. 4-1997/II-1962.RBA 23.691-943; Vorzl. 3-1996/II-1962.RBA 23.691-943; Schreiben vom 13. April 1997, 7-1997/II-1962.RBA 23.691-943; Schreiben vom 5. März 2000, 17-2000/II-1962.RBA 23.691-943) auch von Seiten seines Nachfolgers unbeantwortet blieben, habe ich die Zuweisung der Akte als Arbeitsauftrag verstanden, den Fall wieder aufzurollen.
Ich vertrete die Hypothese, dass Herr Karl Wittinger am 1. Juni 1964 den Überfall auf die Post in Kirchberg a.d.Kr. begangen hat. Sein Komplize Alfred Kohlbauer hat ihm inzwischen mit der (unprofessionell ausgeführten) Installateursarbeit bei der entfernt wohnenden Tierarztgattin ein Alibi verschafft. Er hatte sich ein großes Muttermal, das unverkennbare Merkmal seines Freundes, im Gesicht befestigt (es wäre zu klären, woher er das Utensil hatte). Eine Rückfrage bei der verwitweten Frau Erika Radebrecht am 15. September 2000 (siehe beiliegendes Protokoll, Anhang 5) ergab, dass es weder zu einer Gegenüberstellung mit dem »echten« Karl Wittinger gekommen war noch ihr ein Foto des Verdächtigen vorgelegt worden war. Weiters gab sie, als ich bezüglich etwaiger Besonderheiten hinsichtlich der Sprechweise des Installateurs nachfragte, mir gegenüber zu Protokoll, dass der angebliche Herr Wittinger kaum ein Wort von sich gegeben hätte. Ob er gestottert hätte, konnte sie sich nicht mehr erinnern.
Seitens der Abteilung für die Aufklärung ungelöster Fälle wurden entsprechende Vorarbeiten zur strafrechtlichen Verfolgung geleistet. Der Verdächtige Karl Wittinger kann nicht mehr gerichtlich belangt werden; eine etwaige Komplizenschaft von Alfred Kohlbauer wäre noch zu klären. Die aktuelle Adresse von Herrn Alfred Kohlbauer ist aktenkundig (siehe Anhang 9).
In meiner Funktion als Leiterin der Abteilung für die Aufklärung ungelöster Fälle ersuche ich für den Fall II-1962.RBA 23.691-9435, Post Kirchberg a.d.Kr. auf Grund der von mir hier vorgelegten Hypothese um Bewilligung der Fortsetzung der Ermittlungen (Verhör von Herrn Alfred Kohlbauer) unter der Voraussetzung der Bereitstellung entsprechender personeller Ressourcen.
Im Falle einer negativen Entscheidung beziehungsweise einer ausbleibenden Kundmachung derselben bis spätestens 5. Februar 2004 soll die Akte II-1962.RBA 23.691-9435, Post Kirchberg a.d.Kr. (endlich) geschlossen und aktenmäßig erfasst und archiviert werden.
Wien, am 5. November 2003 Kommissarin K. Breugel